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Fischen für die Stasi

Der Ex-Vize eines westdeutschen Anglerverbandes soll jahrelang für die Stasi gearbeitet und Menschen ins Gefängnis gebracht haben. In Riesa.

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© Jürgen Theobald

Von Jens Ostrowski

Riesa. Jörn Riedesel ist ein Mensch, der die Natur liebt. Vor allem die Ruhr direkt vor seiner Tür hat es dem passionierten Angler angetan. Er engagiert sich für den Umweltschutz, nimmt an Müllsammelaktionen teil, stellt am Flussufer Nistmöglichkeiten für Vögel auf. Nach Stasi-Vorwürfen ist der 73-jährige Vizechef des Landesverbands Westfälischer Angelfischer (150 Vereine, 17 500 Mitglieder) zurückgetreten.

Kürzlich aufgetauchte Akten aus der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin zeichnen ein deutliches Bild von Jörn Riedesel, der in den 60er und 70er Jahren in der DDR lebte und erst 1979 nach Nordrhein-Westfalen zog. Als „IM Christoph“ soll er 1976 bis 1981 im Verborgenen mit dem DDR-Geheimdienst kooperiert haben. Für einige Riesaer mit dramatischen Folgen.

Damals, in den 60ern, kehrt der 17-jährige Pfarrerssohn dem Elternhaus in Wuppertal den Rücken und wandert auf eigene Faust in die DDR ein. In Riesa absolviert Riedesel eine Dreherlehre, arbeitet in den 70er Jahren als Ofenkontrolleur im VEB Rohrkombinat Stahl- und Walzwerk. Doch die Ernüchterung im real existierenden Sozialismus folgt einige Jahre nach dem Mauerbau. Riedesel werden Besuchsreisen in den Westen verwehrt, die Einreise seiner Eltern in die DDR ist nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Auch dass Riedesel – mittlerweile verheiratet und zweifacher Vater – mit seiner Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung leben muss, schürt die Unzufriedenheit. Im Oktober 1975 stellt er einen Ausreiseantrag. Die Ablehnung folgt auf dem Fuße.

Stasi in Alarmbereitschaft

Riedesel schließt sich daraufhin der „Riesaer Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ an. Insgesamt 79 Ausreiseantragssteller aus den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt unterschreiben die Forderung des Initiators Karl-Heinz Nitschke, der sich auf die KSZE-Schlussakte stützt. Die Bewegung wendet sich mit ihrem kollektiven Ausreiseantrag an die Vereinten Nationen, die BRD und an die Weltöffentlichkeit. Das versetzt die Stasi in Alarmbereitschaft. Unterzeichner werden verfolgt, beobachtet, schikaniert.

Vielleicht ist es die Angst vor der Verhaftung, vielleicht aber auch die Hoffnung auf eine schnellere Ausreise, weshalb Riedesel laut Stasi-Akten am 12. September 1976 die Kreisdienststelle des MfS in Riesa aufsucht und einen beabsichtigten Besuch von drei Petenten beim ARD-Korrespondenten Lothar Loewe in Ostberlin verrät. Riedesel als Insider der Menschenrechtsbewegung ist wichtig für den Geheimdienst. Er soll angeworben werden, gilt zunächst als Kandidat. Ab Januar 1977 wird er dann offiziell als IM geführt. Allein bis dahin kommt es laut Akten zu 23 Treffen mit Riedesel, in denen er über die Vorhaben einzelner Petenten berichtet. Unter anderem soll er verraten haben, wo der mittlerweile inhaftierte Karl-Heinz Nitschke belastendes Beweismaterial über dessen Verbindungen in die BRD versteckt hält. Dank dieses Fundes kann die Stasi einen Prozess gegen Nitschke vorbereiten, der eine Verurteilung von bis zu zehn Jahren vorsieht.

Riedesel erhält weiter den Auftrag, durch zielgerichtete Informationen „Misstrauen und Unsicherheit in die Gruppe zu tragen“. Laut Akten übernimmt er Briefe von Vertrauten. Statt sie jedoch außerhalb Riesas in die Briefkästen zu werfen, übergibt er sie offenbar der Stasi. „Durch den Einsatz des Kandidaten wurde die in Riesa existierende Gruppe im Wesentlichen (...) zerschlagen“, lobt die Stasi. Und: „Durch sein vorhandenes Vertrauen zu allen Unterzeichnern der Petition war es möglich, zu insgesamt fünf Personen strafrechtlich-relevantes Material zu erarbeiten, welches eine jeweilige Festnahme dieser Personen ermöglichte.“ – Die Namen der verhafteten Personen in der Akte von „IM Christoph“ sind geschwärzt. Fakt ist aber, dass damals mindestens 16 Petenten verhaftet, einige bis zu fünf Jahren Haft verurteilt werden.

Von alldem will Jörn Riedesel nichts wissen. Er bestreitet, jemals für den DDR-Geheimdienst gearbeitet zu haben. „Ich habe keine Vergangenheit als IM der Staatssicherheit“, behauptet er.

Eine Flasche Sekt zum Abschied

Eine schriftliche Verpflichtungserklärung hat Riedesel nie unterzeichnet. Das hält die Stasi „aufgrund der hohen Aktivitäten bei der Trefftätigkeit und der sich daraus ergebenden guten operativen Ergebnisse“ auch nicht für notwendig. Auch, weil es diesen schriftlichen Beweis nicht gibt, spricht Riedesel von Verleumdung. Weil die Stasi im Auskunftsbericht eine falsche Augenfarbe und ein damals zehn Jahre altes Porträtfoto verwendete, bezweifelt er die Echtheit der Unterlagen an. Klar ist allerdings: „Wenn wir auch nur geringe Zweifel an der Echtheit der Akte hätten, würden wir sie nicht herausgeben“, sagt ein Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde.

Auch in der Stasi-Akte von Karl-Heinz Lange, damals Petent in Riesa, finden sich Berichte von IM Christoph. Auf Lange setzt die Stasi insgesamt ein Dutzend inoffizielle Mitarbeiter an. Obwohl der Kranfahrer einer Verhaftung knapp entgeht, muss er in den 70er Jahren ein wahres Martyrium durchleben.

Er darf seiner Arbeit nicht mehr nachgehen, wird zeitweise unter Hausarrest gestellt, muss stundenlange Verhöre über sich ergehen lassen. Sieben Jahre wartet die Familie auf ihre Ausreise. Im Gegensatz dazu darf IM Christoph bereits 1978 mit seiner Familie ausreisen – dank seiner inoffiziellen Mitarbeit. „Zum Abschied wurde mit dem IM eine Flasche Sekt auf die Ergebnisse seiner bisherigen Arbeit für das MfS und die perspektivische Zusammenarbeit getrunken“, heißt es im Treffbericht.

Die Stasi erhofft sich von Riedesel auch aus dem Westen Informationen über die SPD, zu der dessen Familie enge Kontakte hat. Doch am 27. August 1981 vermerkt die Stasi: „Der IM ist an einer weiteren Zusammenarbeit nicht mehr interessiert, hat Angst vor Repressalien seitens der BRD und möchte in Frieden weiterleben.“

Jetzt, 35 Jahre später, holt Jörn Riedesel seine Vergangenheit ein. Kurz, nachdem die Vorwürfe gegen ihn bekannt wurden, trat er als Landesverbands-Vizechef zurück. Offiziell aus gesundheitlichen Gründen.