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Fette Beute

Regional ist besser. Aber geht das, im Winter nur Obst und Gemüse zu essen, das von hier kommt? Eine SZ-Reporterin hat es getestet – und mehr als nur violette Möhren entdeckt.

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© Thomas Kretschel

Von Dominique Bielmeier

Wollen wir noch Erdbeeren mitnehmen? Die Frau mit den zwei kleinen Kindern, die eben den Supermarkt betreten hat und direkt auf die Obstabteilung zugesteuert ist, wiegt die Plastikpackung mit den Früchten prüfend in der Hand. Jede Einzelne ist so groß wie eine Pflaume, hat eine unnatürlich hellrote Farbe und wonach sie schmecken könnte, mag ich mir kaum ausmalen. Es ist Ende Januar. In Sachsen.

© Thomas Kretschel
Garantiert aus der Region: Die Möhren von Ines Franz aus Dresden lassen sich gut lagern, wenn es sein muss wochenlang.
Garantiert aus der Region: Die Möhren von Ines Franz aus Dresden lassen sich gut lagern, wenn es sein muss wochenlang. © Thomas Kretschel

Bevor ich meine Geringschätzung überhaupt zu Ende denken kann, landet die Packung im Einkaufswagen der Frau. Erdbeeren im Winter, die aus Ägypten zu uns fliegen müssen, nur weil wir nicht warten können, bis sie bei uns Saison haben – für mich ist das ein absolutes Tabu. Allein, wenn ich an das CO2 denke, das auf dem Transport entsteht!

Ich halte mich für einen ziemlich ernährungs- und umweltbewussten Menschen. Als Vegetarierin esse ich ohnehin viel Gemüse und Obst – meist bio –, auf Vollkorn bin ich vor langer Zeit schon umgestiegen. Zucker wird möglichst eingespart, auch Plastikverpackungen.

Und so stehe ich schon kurz nach der Erdbeer-Episode mit bestem Gewissen und einem Baumwollbeutel in der Hand eine Obstreihe weiter vor den Weintrauben. Denke an Weintrauben-Käse-Spieße, die man so gut während der Arbeit naschen kann. Auf den Herkunftsnachweis schaue ich eher zufällig, als die Trauben schon in meinen Beutel wandern. Griechenland. Auch das ein Weg von immerhin mehr als 2 000 Kilometern bis hierher.

Als ich mich nun einmal bewusst in der Obst- und Gemüseabteilung umblicke, beginnt mein Selbstbild zu bröckeln. Die Mango aus Peru würde ich nie anrühren, aber die Bananen aus Ecuador schneide ich mir morgens ganz selbstverständlich ins Müsli. Es geht auch auf kürzerem Wege: Gurken, Tomaten und Paprika, zum Beispiel aus Spanien, kaufe ich das ganze Jahr über. Dort wachsen sie auf riesigen „Feldern“ direkt auf Plastikfolie, wie ich später auf Fotos im Internet sehe. Keine besonders appetitliche Vorstellung, wenn ich genau darüber nachdenke.

Offenbar weiß ich doch weniger über mein Essen, als ich glaube. Auch meine eigene Doppelmoral erschreckt mich. Wahrscheinlich würde ich sogar Erdbeeren im Winter kaufen, wenn sie nur schmecken würden. Ich lege die Weintrauben zurück, greife mir eine Handvoll deutscher Möhren und fasse einen drastischen Entschluss.

Bis Ende Februar werde ich nur das an Obst und Gemüse essen, was die Region hergibt – und zwar zu dieser frostigen Jahreszeit. Das ist schneller beschlossen als wirklich durchdacht. Denn was heißt eigentlich regional? In den meisten konventionellen Lebensmittelgeschäften wird als Herkunftsnachweis nur das Land angegeben, also Deutschland. In Bio- oder auf Wochenmärkten erfahre ich es dagegen ganz genau: Die Äpfel kommen aus Großenhain, die Walnüsse aus Meißen. Als Faustregel lege ich deshalb für mich fest: So regional wie möglich, so „gesamtdeutsch“ wie nötig. Ich bin der Donald Trump der Gemüseabteilung. Germany first!

Dabei kommt mir entgegen, dass „regional“ im Trend liegt. Kaum ein Supermarkt, der nicht mit eigenem Siegel auf Produkte „aus der Region“ verweist. Doch weil es keine gesetzliche Regelung gibt, was hinter der Bezeichnung zu stecken hat, wird hier ordentlich gemogelt. 2011 deckte das Verbrauchermagazin Ökotest auf, dass von 53 angeblich regionalen Lebensmitteln aus Deutschland nur 14 wirklich regional waren. Die anderen wurden zum Beispiel nur in Deutschland vermarktet oder hergestellt – die Rohstoffe kamen jedoch aus anderen Ländern.

Damit mir das nicht geschieht, setze ich auf möglichst unverarbeitetes Gemüse und Obst. Weil der Supermarkt mir das ganze Jahr über den ewigen Spätsommer vorgaukelt, nur kurz unterbrochen von „oh, es gibt frischen Spargel“ und „nun schnitzen wir alle gemeinsam Kürbisse“, habe ich allerdings nur eine vage Ahnung, was man im Winter an deutschem Gemüse kriegt. Kohl? Definitiv Kohl. Und Kartoffeln, denn Kartoffeln gehen ja irgendwie immer. Das sollte zumindest mein Überleben sichern. Für den Rest drucke ich mir einen Saisonkalender aus, hänge ihn in meine Küche und lerne ihn auswendig. Für den Februar steht dort:

Gemüse: Champignons, Grünkohl, Lauch, Pastinaken, Rosenkohl, Schwarzwurzeln, Schwarzer Rettich, Topinambur und Wirsingkohl. Eingelagert auch Butterrüben, Kartoffeln, Kürbis, Möhren, Rote Bete, Rotkohl, Steckrüben, Weißkohl und Zwiebeln.

Salat: Chicorée, Feldsalat und Portulak, eingelagert auch Radicchio.

Obst: Äpfel.

Was ich davon bisher gerne und regelmäßig esse: Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln und Feldsalat. Champignons und Äpfel gehen so. Das kann ja heiter werden.

Erste Station auf meiner Einkaufstour ist ein Bioladen. Sonst kaufe ich das meiste Gemüse hier, nun bin ich etwas erschrocken: Vieles, was gerade bei uns wachsen sollte, wurde aus anderen europäischen Ländern importiert. Offenbar muss man hier Abstriche machen, bio und regional geht nicht immer zusammen. Ich verlasse den Laden mit einem deutschen Schwarzen Rettich, ein paar deutschen Pastinaken und deutschen violetten Möhren, denen ich wegen ihrer Farbe nicht so ganz über den Weg traue.

Zu Unrecht, denn sie schmecken fantastisch; süßer als normale Möhren und irgendwie blumiger. Außerdem sehen sie auf einem Flammkuchen, den man übrigens mit Lauch statt Frühlingszwiebeln sehr gut saisonal zubereiten kann, auch noch toll aus. Mein Schwarzer Rettich hat weniger Glück. Er wird im Vorratsschrank zu einem Schrumpfkopf, bevor ich mich an sein schneeweißes Inneres getraut habe. Damit es den Pastinaken nicht ähnlich ergeht, schnipple ich sie an meine Nudeln mit Pesto. Das geht schnell, einfach und ist ein großer Fehler, denn beides passt überhaupt nicht zusammen.

Die Pastinaken sind überraschend süß, was ich nach früheren Versuchen wohl erfolgreich verdrängt hatte. Im Internet lese ich, dass die Wurzel bei Botanikern als Kreuzung aus Karotte und Petersilie gilt. Wenn sie den ersten Frost abbekommt, soll sie sogar noch süßer werden. Damit hat sie meine Hochachtung, denn mit mir geschieht das Gegenteil, sobald es kälter wird. Nach ein paar Tagen Regional-Test stelle ich ernüchtert fest, dass ich etwas ändern muss. Ich hatte geglaubt, ich könnte mich mit wenig Aufwand größtenteils wie gewohnt ernähren, aber die Pastinaken-Pasta hat mich eines Besseren belehrt. Außerdem macht es keinen Spaß, aus dem Supermarkt die immer gleichen, in Plastik verpackten, vermeintlichen Regional-Produkte nach Hause zu tragen. Ich muss nicht nur mein Ess-, sondern auch mein Koch- und vor allem mein Konsumverhalten überdenken.

Und so stehe ich an einem Donnerstagmorgen in klirrender Kälte auf dem Wochenmarkt im Dresdner Alaunpark, wo gerade erst die Stände mit Obst und Gemüse aufgebaut werden. Lange muss ich nicht suchen, um regionale Produkte zu finden, der Gartenbau von Christian Gorbitz aus Dresden hat eine große Auswahl vor seinem Verkaufszelt aufgebaut. Drinnen gibt es Tomaten, Orangen oder Gurken aus Zukauf, aber hier draußen kommt alles aus Orten, durch die ich zumindest schon einmal gefahren bin. Die freundlichen Mitarbeiterinnen erklären mir außerdem genau, was gerade noch wächst und was aus dem Lager stammt. Sogar regionale Birnen finde ich hier, und bin stolz, so den Saisonkalender übertrumpft zu haben.

Ich kaufe so viel, wie in meinen Beutel passt, dann bekomme ich noch ein Bund Petersilie geschenkt, „auch aus unserem Gewächshaus“. Schön, jemand, der mitdenkt. Mein Kühlschrank ist nun so voll, dass kein Licht mehr nach außen dringt, wenn ich ihn öffne, aber nun bin ich auch gezwungen, das Beste aus meiner regionalen Beute zu machen. Damit Champignons, Feldsalat, Mangold (zwei zu null gegen den Saisonkalender) und die ganzen Kohlköpfe nicht grundlos gestorben sind, brauche ich einen Plan. Zur richtigen Zeit entdecke ich die Internetseite regional-saisonal.de. Dort stehen jede Menge Rezepte speziell für den Monat Februar. Und die sind sogar noch einfach und schnell gemacht. Also stehe ich am Wochenende gewissenhaft in der Küche und arbeite einen riesigen Berg an Gemüse ab. Aus den verschiedenfarbigen Möhren und zwei Äpfeln wird ein großer Salat, aus den Champignons eine cremige Soße zu Bandnudeln und aus dem Mangold eine Mangold-Kartoffel-Pfanne. Geht doch.

Weil ich zwischendurch mal ein paar andere Vorräte brauche als immer nur Obst und Gemüse, schaue ich in dem verpackungsfreien Supermarkt „Lose“ in der Dresdner Neustadt vorbei. Hier fülle ich mir Nudeln, Reis und Öl ab und traue dann meinen Augen kaum: Im Gemüseregal liegen die ersten kleinen Gurken aus Radebeul. Ratzfatz sind die weggekauft, trotz des stolzen Preises. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die Wert darauf legt, ganz genau zu wissen, wo ihr Essen herkommt.

Ein Glück für Ines Franz. Die 50-Jährige führt seit 1997 den Biohof Franz in Dresden-Gohlis, nahe dem Stausee Niederwartha. Fünf Hektar Freilandgemüse, rund 20 verschiedene Sorten, darunter Möhren, Kohlrabi, Brokkoli, Fenchel und verschiedenste Salate. Regionaler geht es also nicht, von der Kresse, die ich auf meinem Fensterbrett züchte, einmal abgesehen.

Als ich Ines Franz an einem Morgen Ende Februar auf ihrem Hof besuche, liegen die Felder jedoch brach und im großen, ungeheizten Gewächshaus hängen Rucola und Portulak traurig die Blätter. Noch junge Salatpflänzchen werden im Gewächshaus von einer Folie geschützt, Franz hofft, dass sie nicht erfrieren. Seit Tagen ist nun schon Dauerfrost. Bedeutet das nicht das Aus für einen ausschließlich regional arbeitenden Betrieb? Nein, sagt die Landwirtin, und sie kann mir auch zeigen, wieso: In einer großen Halle sind bis an die Decke riesige Kisten voller Möhren gestapelt. In jeder steckt eine ganze Tonne. So viel verkauft der Hof auch jeden Monat, das meiste davon, über drei Viertel, geht an die Verbrauchergemeinschaft in Dresden, die den ökologischen Landbau in der eigenen Region unterstützt.

Die VG hat sich, anders als die Supermärkte, eine sehr genaue Definition des Begriffes „regional“ gegeben: Die Produkte werden im Umkreis von 150 Kilometern um Dresden hergestellt oder verarbeitet.

„Unsere Möhren sind stadtweit bekannt bei Leuten, die bio kaufen“, sagt Ines Franz und führt mich in einen anderen Raum. Hier steht eine mannshohe Maschine mit Metalltrommel, die nicht zufällig an eine Waschmaschine erinnert – darin wird das Gemüse vor dem Transport gereinigt. In der Luft liegt ein unbeschreiblicher Geruch nach frischen Möhren. Ein junger Mann im Freiwilligen Ökologischen Jahr packt die orangen Wurzeln in kleinere Kisten, in denen sie den Hof verlassen werden.

Noch bis April sollen die Möhrenvorräte reichen, rechnet Franz aus. Ein paar Pastinaken sind auch noch da, Rote Bete und Sellerie sind schon weg, der Feldsalat war sogar schon Weihnachten alle. Dabei könnte er problemlos einfrieren und wieder auftauen.

Weil der Biohof nur Pachtflächen bewirtschaftet, sind die Gewächshäuser nicht beheizt, erklärt mir Ines Franz. Sonst wäre anbautechnisch noch mehr möglich. Hier liegt auch ein wenig die Krux der regionalen Ernährung, zumindest wenn man beim Argument der Transportwege und Energie ansetzt. „Was eingelagert wird, braucht ja auch Energie“, sagt Franz. Eine Tomate aus Spanien, die man im Mai aus dem Freiland kauft, habe mitunter weniger Energie verbraucht, als wenn sie im deutschen Gewächshaus ab Februar beheizt gewachsen sei. Deshalb plädiert die Landwirtin auch keinesfalls dafür, sich nur regional und saisonal zu ernähren – und tut das im Übrigen selbst nicht. „Es ist gut, wenn man das, was regional da ist, kocht“, sagt sie. Aber auch sie isst im Winter zum Beispiel gerne Mandarinen aus Spanien. Irgendwie gehören die ja schon zu unserer Küche dazu.

Aber früher war das doch auch irgendwie möglich, denke ich. Was haben die Leute damals denn anders gemacht? „Es wurde einfach viel mehr mit Konserven gearbeitet“, schlägt Ines Franz vor.

Mit einem Tütchen Dresdner Bio-Möhren verlasse ich den Hof wieder. Bevor ich auf die Idee komme, diese einzuwecken, kaufe ich mir lieber ein Glas Gurken aus dem Spreewald. Als ich diese vorbei an Grün- und Rosenkohl nach ganz hinten in meinen Kühlschrank schiebe, entdecke ich einen Kohlrabi aus vor-regionalen Zeiten, der irgendwie überlebt hat. Das ganze Gerede über Essen wie früher und die Kombination aus Kohlrabi und Möhren hat mich an etwas erinnert. Und auf eine Idee gebracht.

Es klingelt zwölfmal, dann hebt meine Oma völlig ungestresst den Hörer ab, wie immer mit einem knappen „ja?!“ Ohne Gruß frage ich nach dem Rezept für Kohlrabisuppe mit Mehlspatzen, eines meiner Lieblingsrezepte als Kind. Nur habe ich damals die Mehlspatzen rausgefischt und das Gemüse links liegen lassen. Ich höre meine Oma tief einatmen, dann ganz langsam ausatmen. Auf diesen Moment hat sie offenbar schon sehr lange gewartet. „Also ...“