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Fall Gimmlitztal – alles noch mal von vorn

Für Detlev G. geht es nun um alles oder nichts. Ein paar Zentimeter Seil entscheiden: War es Mord oder Selbstmord?

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© Robert Michael

Von Thomas Schade

Es ist eine Revision mit Risiko, die Strafverteidiger Endrik Wilhelm und Manuela Bertsch für ihren Mandanten beantragt hatten. Dass sie damit erfolgreich waren, macht die Sache nicht besser. Denn nun steht der Kriminalbeamte Detlev G. ab Dienstag erneut wegen der Ereignisse im Gimmlitztal vor dem Landgericht, und nun geht es um alles oder nichts.

Der langjährige Schriftsachverständige im Dienste des Landeskriminalamtes war am 1. April 2015 wegen Mordes und Störung der Totenruhe verurteilt worden. Die Richter waren überzeugt, dass er den 59-jährigen Kleinunternehmer Woitek S. auf dessen Verlangen hin getötet und anschließend zerstückelt hatte. Aber Detlev G. musste für den Mord nicht, wie sonst üblich, lebenslänglich in Haft.

Der 58-jährige Angeklagte wurde lediglich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Verteidiger hatten Freispruch beantragt und argumentiert: In der Beweisaufnahme sei nicht zweifelsfrei bewiesen worden, dass ihr Mandant die Schlinge mit dem Henkersknoten festgezogen hatte, die sich Woitek S. am 4. November 2013 selbst um den Hals gelegt hatte.

Was war passiert? Nach der Trennung von seiner Frau lebt Detlev G. seine Homosexualität aus, auch exzessiv, wie sich später herausstellt. Mit einem Lebenspartner betreibt er eine Pension im Gimmlitztal im Erzgebirgsvorland. Im Keller des Hauses richtet er ein Sadomaso-Studio ein. Anfang September 2013 meldet sich Detlev G. im Internetforum „Zambian meet“ an, in dem Nutzer kannibalische Fantasien austauschen. Dort erklärt er sein Interesse an einer „realen Schlachtung“. Nach zwei misslungenen Versuchen lernt Detlev G. in dem Forum Woitek S. kennen. Beide chatten, telefonieren und schicken Mitteilungen hin und her. Daraus geht hervor: Woitek S. sucht seit 2011 in dem Forum nach einem „Meister“, der ihn schlachtet und verspeist. Er meint es ernst. Das Gericht hat später keine Zweifel, dass der gebürtige Pole auf diese Weise sterben wollte.

Detlev G. ist bereit, ihn zu schlachten, aber nur, wenn der Geschäftsmann uneingeschränkt einverstanden ist. Am 3. November 2013 frohlockt Detlev G. vor laufender Kamera über das „Schlachtfest“ am nächsten Tag, das „sehr geil“ werde. Im sexuellen Lustgewinn sieht das Gericht später auch das Motiv des Angeklagten. Am nächsten Abend kommt es zu der folgenreichen Begegnung im Keller der Pension im Gimmlitztal. Die zerstückelten Leichenteile findet die Polizei später vergraben im Garten der Pension. Einzig der Penis und ein Hoden bleiben verschwunden.

Todesursache nicht eindeutig

Nach einer sieben Monate dauernden Hauptverhandlung spricht die Dresdner Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Birgit Wiegand ein ungewöhnliches Urteil. Sie rückt die Tat des Angeklagten zwar in die Nähe einer Tötung auf Verlangen, verurteilt Detlev G. aber wegen Mordes. Die Kammer nutzte einen juristischen Kunstgriff, die sogenannte Rechtsfolgenlösung, und bewertete den „unbedingten Todeswunsch“ des Opfers als einen „außergewöhnlichen Umstand“. Der ermögliche es, von einer lebenslangen Haft abzusehen.

Ein Jahr später verwirft der 5. Strafsenat des BGH dieses Urteil und erklärt: Die Würdigung der erhobenen Beweise durch die Kammer halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Würdigung sei „lückenhaft“ und „nicht frei von Widersprüchen“. So hätten die Richter „nicht rechtsfehlerfrei“ ausgeschlossen, dass sich Woitek S. selbst getötet hat. Damit bestätigt der BGH die Zweifel der Verteidiger.

In der Revisionsentscheidung lauern Tücken. Die nun beauftragte 5. Kammer des Landgerichts unter Vorsitz von Hans Schlüter-Staats muss sich insbesondere mit jenen Augenblicken am frühen Abend des 4. November befassen, in denen Woitek S. im SM-Keller am Kletterseil hing. Über die Dehnbarkeit dieses alten Seiles hat ein Sachverständiger Zahlen geliefert, aber keine Aussage über die Möglichkeit einer Selbsttötung. Die 22,9 Zentimeter, um die das Seil nachgegeben haben soll, dürften über das Schicksal von Detlev G. entscheiden. Um der Wahrheit möglichst nahezukommen, empfiehlt der BGH, was auch die Verteidiger im ersten Prozess gefordert hatten: eine Tatrekonstruktion im SM-Keller.

Auch die Todesursache können die Rechtsmediziner nicht mehr eindeutig bestimmen. Woitek S. könnte durch den Strang, aber auch durch einen Kehlschnitt gestorben sein, den der Angeklagte in seiner ersten Vernehmung bei der Polizei gestanden und beschrieben hat.

Kommen die Richter im zweiten Prozess erneut zur Überzeugung, dass die Tötung im SM-Keller ein Mord und kein Selbstmord war, dann kommt es dicke für Detlev G. Denn der BGH hat auch den richterlichen Kunstgriff von Birgit Wiegand beanstandet. Die von ihr gewählte Rechtsfolgelösung, die den Angeklagten vor einer übermäßig harten Bestrafung bewahren soll, sei in dem Fall nicht anwendbar, sondern auf „notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situationen“ beschränkt. Der Todeswunsch des Tatopfers beschreibe so eine Situation nicht, so der BGH.

So muss Detlev G. nunmehr auch eine lebenslängliche Haftstrafe fürchten. Seine Verteidiger dagegen hoffen, dass sich die Richter bei der Revisionsverhandlung auf die Frage konzentrieren werden, ob ein Suizid sicher ausgeschlossen werden kann. „Wenn das geschieht, erhöhen sich die Chancen für einen Freispruch ganz erheblich“, sagt Endrik Wilhelm. Im vorherigen Prozess hätten „spekulative Handlungsabläufe im Mittelpunkt gestanden“. Wilhelm bezeichnet seinen Mandanten, der inzwischen seit drei Jahren im Gefängnis sitzt, mittlerweile als „dienstältesten“ Untersuchungshäftling Sachsens.