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„Entlassen nach der BRD“

Gisela Quasdorf wurde vom MfS verfolgt, versuchte zu fliehen und empfand Haft als Erlösung. Dann kam der Freikauf.

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Von Thilo Alexe

Knapp 20 Minuten haben gereicht, um das Leben einer jungen Frau zu ruinieren. Als 22-Jährige ließ sich die Radebeulerin Gisela Quasdorf im Ungarnurlaub auf einen Smalltalk mit einem vermeintlich Westdeutschen ein. Das anfangs lockere Gespräch drehte sich rasch um das Thema Ausreise. Offenbar antwortete die Kita-Erzieherin nicht besonders klassenbewusst. Ihre Urlaubsbekanntschaft war alarmiert.

Diese Urkunde besiegelte für Gisela Quasdorf den Abschied aus der DDR. Ihre Autobiografie „Entlassen zum Klassenfeind“ schildert die Geschichte des Freikaufs. Repro: Wirsig
Diese Urkunde besiegelte für Gisela Quasdorf den Abschied aus der DDR. Ihre Autobiografie „Entlassen zum Klassenfeind“ schildert die Geschichte des Freikaufs. Repro: Wirsig

Der Stasispitzel erstattete Bericht an seinen Arbeitgeber in der DDR. Von da an wurde, wie Gisela Quasdorf sagt, ihr Leben zur Hölle. Einer drei Jahre währenden Hölle, der sie durch ein sächsisches Gefängnis entkam. Die Bundesrepublik kaufte Frau Quasdorf frei. Aus dem damaligen Knast auf dem Chemnitzer Kaßberg, dessen bislang kaum untersuchte Geschichte als Drehscheibe für den Häftlingshandel in einer aktuellen Studie erforscht wird, gelangte sie schließlich per Bus in den Westen.

Doch zunächst erhielt Gisela Quasdorf beunruhigenden Besuch. Nach ihrer Rückkehr im Sommer 1975 klingelten Kriminalpolizisten. „In Wahrheit war das die Stasi.“ Die Männer befragten sie nach Ausreiseplänen, drohten ihr, setzten sie unter Druck. Quasdorf geriet in Panik. Ihre Mutter war wegen Staatsverleumdung verhaftet worden, sie wuchs phasenweise im Heim auf. Gisela Quasdorf muss sich vorgekommen sein wie die Hauptfigur in einem beklemmend-surrealen Roman von Franz Kafka. Die junge Sächsin wusste ja nicht, warum sie verfolgt wird. Vom Stasispitzel am Urlaubsdomizil erfuhr sie erst nach 1989.

Schließlich stellte Quasdorf tatsächlich einen Ausreiseantrag und verlor ihre Arbeit. Im Gegenzug schrieb sie jede Woche trotzig eine Postkarte an Erich Honecker mit der wenig staatstragenden Bitte, sie endlich gehen zu lassen. Die Obrigkeit schlug zurück. Die angeblichen Polizisten drohten Quasdorf, ihr fingierte Beweise für ein Verbrechen unterzujubeln und sie im Gefängnis verschwinden zu lassen.

„Das waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens“, sagt die heute 59-Jährige. Angetrieben von Angst wagte sie mit einem Freund einen Fluchtversuch über Tschechien. Soldaten stoppten sie an der Grenze zu Bayern. Die folgenden Wochen im Dresdner Stasiknast auf der Bautzner Straße empfand Gisela Quasdorf, wie sie sagt, als Erlösung. Nicht, dass die Haft angenehm gewesen wäre. Doch die Zeit der ständigen Furcht, grundlos im nächsten Moment geschnappt zu werden, war vorbei. Quasdorf wurde zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, saß im Frauengefängnis Hoheneck und wurde nach einem knappen Jahr auf den Kaßberg verlegt. „Da wusste ich, dass ich freigekauft werde.“

Am 20. Juni 1979 erhielt sie ihren Entlassungsschein – aus dem Gefängnis, der DDR und „nach der BRD“. In Bayern startete sie ihr neues, turbulentes Leben, das sie drei Jahre später nach Berlin führte. Zwischendurch betrieb die heute 59-Jährige, die auch Köchin lernte, ein Hotel auf den Philippinen, dann einen Motorradverleih in Thailand. In Italien arbeitete die lebensbejahende Frau als Reiseführerin.

Gebrochen hat sie die Zeit der Verfolgung nicht. Bei einem Besuch in Dresden setzt sich Gisela Quasdorf sogar neugierig in ihre frühere Zelle. Hass empfindet sie nicht. Sie erzählt dagegen von einem eigenartigen Gefühl, das wohl Dankbarkeit ähnelt. Ohne den Stasispitzel wäre sie nie aus der DDR herausgekommen. In Berlin führt sie Besucher durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Im nächsten Jahr, sagt sie, will sie wieder aufbrechen und eine Tierpension auf Mallorca eröffnen. „Es muss nach vorne gehen.“

Zur Geschichte des Kaßbergs: „Via Knast in den Westen“, N. Aris und C. Heitmann, Ev. Verlagsanstalt, 9,90 €.