Von Jana Ulbrich
Der Kalender im Flur der kleinen Radebeuler Wohnung ist stehen geblieben. Seit fünf Jahren und drei Monaten. Seit fünf Jahren und drei Monaten sehen Christine und Reinhard Pötschke immer und immer wieder das Kalenderblatt vom Juni 2009. Keiner der beiden hat es gewagt, den Kalender abzunehmen. Er wird auch weiter hängenbleiben. Er gehört ja zu den Erinnerungen.
Es ist der 12. Juni 2009, ein sonniger Freitagnachmittag. Johannes Hentschel – Christine Pötschkes jüngerer Bruder – und seine Frau Sabine arbeiten für die christliche Hilfsaktion „Worldwide Services“ im staatlichen Krankenhaus von Saada im Norden Jemens. Seit fünf Jahren schon sind die Krankenschwester und der Haustechniker im Jemen im Einsatz, ihre Arbeit ist geschätzt. Ihre Kinder Simon, damals ein Jahr alt, Anna, damals vier, und Lydia, fünf, wachsen in zwei Kulturen auf. Im darauffolgenden Sommer will die Familie nach Hause kommen, nach Meschwitz bei Bautzen, in ihr liebevoll restauriertes Umgebindehaus, zu ihrer großen Familie, in Radebeul und in der Oberlausitz.
Sabine und Johannes Hentschel sind tot. Fünf Jahre und drei Monate nach jenem verhängnisvollen 12. Juni 2009 haben die Angehörigen in der Heimat nun endlich Gewissheit. Endlich! Reinhard Pötschke sagt das mit einer großen Erleichterung. Er ist aufgestanden und hat eine Kerze angezündet. Die Bibel daneben ist bei Hiob aufgeschlagen. Das passt, wenn es ums Leid geht, findet Pötschke. Er ist evangelischer Pastor in Radebeul. Die Familie ist sehr christlich. „Das hilft uns beim Aushalten“, sagt der 47-Jährige. „Dieser 12. Juni 2009 und die ganzen Ereignisse danach haben unser Leben nachhaltig geprägt“, sagt er. „Und auch verändert.“ An jenem schönen Nachmittag wollen Sabine und Johannes Hentschel nach der Arbeit mit ihren Kindern und ein paar Kollegen zum Picknick in die Berge fahren. Ein fröhliches Winken wird ihr letztes Lebenszeichen sein.
Chronologie: Das Schicksal der entführten Familie im Jemen
Stichwort: Gefährliches Krisenland Jemen
Die kleine Gruppe wird entführt. Drei junge Krankenschwestern, zwei Deutsche und eine Koreanerin werden wenig später erschossen aufgefunden. Es tauchen Videos der Kinder auf. Das Auswärtige Amt ermittelt mit Hochdruck. Der Bundesaußenminister persönlich bittet die jemenitischen Behörden um Hilfe. Ohne Erfolg.
Auch jetzt, fünf Jahre und drei Monate später, gibt es keine verlässlichen Erkenntnisse darüber, wer die Entführer gewesen sind und was genau passiert ist. Auch wie die Freilassung der beiden Töchter – dieses Wunder – zustandegekommen ist, wissen die Angehörigen nicht. Es soll ein Spezialkommando des saudischen Geheimdienstes gewesen sein, das Anna und Lydia freigehandelt hat. Herausgeputzt wie kleine Prinzessinnen, mit hennaroten Haaren, wohlauf und gesund können die Angehörigen die Mädchen ein knappes Jahr nach der Entführung in die Arme schließen. Sie sprechen Arabisch, nennen sich Sarah und Fatima und müssen gleich nach der Entführung von den Eltern getrennt worden sein.
Es scheint ihnen gutgegangen zu sein. Sie erzählen von einem großen Haus, von einem Dorf, von einer Familie. Von vier Kamelen und einem Fernseher. Sie erzählen auch von ihrem kleinen Bruder Simon, der so sehr geweint hat. Eine Frau hat ihn auf dem Arm getragen. Dann ist sie weggefahren und ohne ihn wiedergekommen. „Wir müssen davon ausgehen, dass Simon wohl an einer Krankheit gestorben ist“, sagt Reinhard Pötschke leise.
Wie und wann Sabine und Johannes gestorben sind – auch das kann er nur vermuten. Wahrscheinlich schon gleich nach der Entführung. Auch beim Auswärtigen Amt weiß man offenbar nichts Konkretes über den Tod der beiden Oberlausitzer. Aber wenigstens hat es die Familie jetzt schriftlich. „Es ist zwar schmerzlich, aber es ist endlich die Gewissheit, auf die wir so lange gewartet haben“, sagt Reinhard Pötschke. Ende August hat die Familie einen offiziellen Brief vom Auswärtigen Amt bekommen. Gemäß eines „zuverlässigen nachrichtendienstlichen Aufkommens“, heißt es darin, seien Sabine und Johannes Hentschel „im Verlauf ihrer Entführung getötet worden“, Simon sei an einer Krankheit gestorben.
Reinhard Pötschke nimmt immer wieder das Familienfoto in die Hand, das Johannes noch kurz vor der Entführung nach Hause geschickt hat. Es wird das allerletzte Foto von ihm, Sabine und Simon bleiben. Reinhard Pötschke kann die Bitterheit in seiner Stimme nicht ganz verbergen. „Seit Jahren versuchen wir, eine offizielle Aussage von den Behörden zu bekommen“, sagt er. Immer wieder hakt die Familie beim Auswärtigen Amt nach, fordert Auskunft zum Stand der Ermittlungen und Einsicht in die Akten. Ahnt schon lange – und weiß am Ende trotzdem nicht viel mehr.
„Diese Erkenntnis, die wir jetzt nach fünf Jahren und drei Monaten schriftlich haben, die ist doch nicht neu“, sagt Pötschke. Aber sie ist wichtig. Endlich kann die Familie Abschied nehmen. Sie kann Sabine, Johannes und Simon jetzt offiziell für tot erklären lassen. Das ist auch nötig, um die Angelegenheiten der beiden Mädchen rechtlich ordnen zu können. Jetzt kann die Familie das Vermächtnis der Hentschels erfüllen, kann sich um ein Grab, um eine Stelle zum Gedenken kümmern.
Das Leben in der Lausitz muss ja weitergehen. Lydia und Anna haben ein liebevolles Zuhause und fünf Geschwister in der Familie von Sabines Bruder Bernd gefunden. Die Mädchen sind jetzt acht und zehn Jahre alt und zwei fröhliche Kinder. Das leuchtend rote Henna ist ihren langen Haaren längst entwachsen.
Ruth und Gottfried Hentschel, die Großeltern, haben ein neues Enkelkind und zwei Urenkel bekommen. Christine und Reinhard Pötschke haben ihre jüngste Tochter Simona Sabine getauft. Ein Junge hätte Simon Johannes geheißen. Anna und Lydia sind oft zu Besuch bei Tante Christine, Onkel Reinhard, ihrem Cousin und den Cousinen in Radebeul. Die große Familie ist noch näher zusammengerückt seit jenem 12. Juni 2009. So lässt sich die Trauer besser aushalten. Und auch der endgültige Abschied, der nun kommen kann.