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Ende einer Kindheit

Käthe war 14, als sie am Ende des Kriegs von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde. 70 Jahre danach bricht sie zum zweiten Mal ihr Schweigen.

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© privat

Von Britta Veltzke

Da ist er wieder – der Mann in ihrem Kopf, der plötzlich in ihrem Kinderzimmer in Glaubitz steht: groß, ordenbehangene Uniform, nicht irgendein dahergelaufener Fußsoldat. Er wird Käthe aus ihrer Kindheit reißen. Mit aller Gewalt. Befehle in einer unverständlichen Sprache spuckt er aus, der stählerne Lauf seiner Pistole drückt sich in ihre Schläfe.

Da ist sie, diese Angst, die sie nie mehr losgelassen hat. Es ist nicht die Angst, die ein Mädchen kennt, das im Krieg aufwächst. Nicht die, die in ihr hochkriecht, als die Bomber über ihr Dorf fliegen und Dresden als glühenden Stern am Horizont sichtbar werden lassen. Nicht die, die sie um den Vater hat, der kurz vor Kriegsende doch noch eingezogen wird. Und auch nicht die vor den SS-Leuten, die ihrer Familie verbieten, zusammengetriebene KZ-Häftlinge auf dem Sportplatz vor ihrem Haus zu versorgen. Einen ganzen Berg voller Ängste hat das Mädchen gesammelt. Diese hier ist schlimmer als die anderen.

Es ist eine Angst, die sie lähmt, hilflos macht, aber dennoch bei Bewusstsein bleiben lässt. Wäre sie doch ohnmächtig geworden, dann wären diese Bilder vom letzten Tag des Krieges heute nicht mehr da. Der fremde Soldat reißt ihr die Kleider vom Leib – und sich die Hose herunter.

Die Angst hält sie gefangen. Das Mädchen lässt ihn gewähren. Für die
14-Jährige ist das, was ihr am 8. Mai 1945 passiert, das Schlimmste in ihrem Leben. Das ist es bis heute, 70 Jahre danach.

„Ich werde das nie vergessen“, sagt Käthe*. „Nie!“ Sie streicht mit der linken Hand die Decke auf dem Sofa glatt.

Sie ist jetzt 84 , Witwe, und lebt in einem der Plattenbauten in Nünchritz, die von der Bahnstrecke Dresden – Leipzig aus zu sehen sind. Das Wohnzimmer geht zur anderen Seite raus. Milde lächelnd blickt sie auf die neue Kindertagesstätte, die die Gemeinde eingerichtet hat. Einen Kanarienvogel hält sie in ihrer Zweizimmerwohnung. Bubi heißt er. „Er ist krank und macht nicht mehr lang, leider.“ Den Käfig hat sie auf den Couchtisch gestellt. Am Boden sitzt der Vogel – liegt vielmehr. Seine Umgebung beobachtet er aber noch aufmerksam durch die schwarzen Knopfaugen. In einem Aquarium schwimmen bunte Fische. Ihr Enkel hat es so hingestellt, dass sie die Fische vom Sofa aus beobachten kann. Käthe ist mit Tieren aufgewachsen, sie liebt Tiere. Vielleicht, weil es die einzigen Lebewesen waren, mit denen sie als junge Frau über die Vergewaltigung sprechen konnte.

Mit dem Krieg endet die Schulzeit für Käthe. Als die ersten Russen kommen, fängt sie an zu arbeiten, als Gehilfin in der Landwirtschaft auf dem Hof der Familie Bennewitz in Colmnitz zwischen Großenhain und Riesa. Kühe, Schweine, Pferde müssen versorgt werden, Felder bestellt. Es ist ein großer Hof, viel größer als der Betrieb bei Käthe zu Hause, der gerade mal die eigene Familie versorgt. Aber was heißt schon gerade mal? „Wir waren dreizehn Kinder zu Hause.“ Käthe ist die Älteste.

Es ist Sommer 1945, als die Familie Bennewitz einen schweren Entschluss fasst: Sie packt das Nötigste zusammen und verlässt die Heimat. „Ich hätte mitgehen können. Sie haben mir das angeboten. Stattdessen bin ich zurück nach Glaubitz gelaufen, zu meinem Elternhaus“, erzählt Käthe. Durch die sanfte Hügellandschaft tritt sie also den Heimweg an, Getreidefelder säumen den Fahrweg, auf dem sie spaziert. Plötzlich tauchten dort zwei Reiter auf.

„Es waren Kosaken, Russen.“

Sofort ist sie wieder da, diese Angst, die sie am letzten Tag des Krieges kennenlernen musste. Und wieder passiert es. Zum zweiten Mal.

„Ich hätte …“

Ihre Stimme wird leiser. Sie schluckt. Eine Pause entsteht. Kanarienvogel Bubi zieht sich mit dem Schnabel an den Gitterstangen hoch und schaut sich um.

„Hätte ich gewusst, was passiert, ich wäre einfach in die Getreidefelder gelaufen.“

Zurück im Elternhaus kommen noch öfter russische Soldaten vorbei.

„Ich habe mich dann immer auf dem Sofa zusammengerollt und meinen Körper unter einer Decke verhüllt, damit ich jünger aussehe.“

Ihr Blick ist in die Ecke ihrer eignen Couch gerichtet, als die 84-Jährige diese Szene erzählt. Mit hochgezogenen Schultern und einer Geste, als wolle sie sich tatsächlich gerade eine Decke über das dünne gefärbte Haar ziehen.

Die Rote Armee durchsucht die Häuser. „Unsere Nachbarin hatte das ganze Haus voll mit Hitler-Bildern. Die Frau haben sie mitgenommen.“ Bei ihr daheim suchen die Soldaten vergeblich nach Hakenkreuzflaggen und Ähnlichem. „So etwas hatten wir nicht.“ Kurz vor Kriegsende habe die Familie sogar eine der Frauen aufgenommen, die von der SS aus einem Konzentrationslager herangetrieben worden war. „Sie sah elend aus. Ich erinnere mich nicht mehr gut an sie. Nach zwei Tagen war die Frau einfach weg. Verschwunden.“

Wie Käthe ist es Tausenden Frauen ergangen, als die Russen kamen, um Deutschland von den Nazis zu befreien. Auf einer Liste, die im Stadtarchiv Riesa aufgetaucht ist, stehen über 50 Fälle von Vergewaltigungen allein in Riesa zwischen dem 27. April bis zum 6. Mai 1945. „Schätzungen zufolge wurden zum Ende des Zweiten Weltkrieges ein bis zwei Millionen Frauen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt“, sagt Heide Glaesmer von der Abteilung für Medizinische Psychologie der Universität Leipzig. In mehreren Studien hat sie sich mit psychischen und körperlichen Folgen solcher Erlebnisse ausein-
andergesetzt. „In der DDR gab es kaum psychotherapeutische Behandlung für die Frauen.“ Aber auch in Westdeutschland habe in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg kaum Aufarbeitung stattgefunden. Das hatte in beiden Teilen Deutschlands auch moralische Gründe: „Es schien nicht angebracht, dass eine ,Täternation‘ über eigene Beschädigungen klagt. Das Thema Vergewaltigung im Zweiten Weltkrieg findet in Deutschland erst seit ein, zwei Jahrzehnten wirklich Beachtung. Aus der Forschung wissen wir, dass den Frauen die Anerkennung ihres Leides bei der Bewältigung hilft.“

Eine Studie belegt, dass die Frauen sich entweder nur nahen Angehörigen anvertraut oder einfach über ihr Schicksal geschwiegen haben. Auch Käthe hat das so gemacht. Ihre Vergewaltigungen hat sie nie angezeigt. Sie hat auch mit niemandem darüber gesprochen, mit einer Ausnahme: ihrem Ehemann. Ihm erzählte sie, was sie erlebt hatte – nach zwei Jahrzehnten Ehe. 1946 hatte sie ihn beim Erntedankfest kennengelernt, nachdem er aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Vor über zehn Jahren ist er gestorben. „Er war ein guter Mann“, sagt Käthe. Sie trauert noch immer.

Bei vielen Frauen haben die Vergewaltigungen sogenannte posttraumatische Belastungsstörungen hervorgerufen. Heide Glaesmer erklärt: „Sie haben das Erlebte nicht in ihr autobiografisches Gedächtnis einordnen können. Das führt dazu, dass die Erinnerungen noch immer schmerzlich und wie im Hier und Jetzt erlebt werden, auch wenn sie schon 70 Jahre zurückliegen.“ Mit Hilfe von Psychotherapeuten sei es möglich, dass Vergewaltigungsopfer ihre Erlebnisse in der Vergangenheit verorten und damit bewältigen können.

Von Käthes Schicksal weiß seit dem Tod ihres Mannes niemand mehr. Nicht ihre Tochter, nicht die Söhne, nicht die Enkel. „Verdrängung funktioniert aber in den meisten Fällen nicht dauerhaft“, sagt Expertin Glaesmer. „Im hohen Alter erzählen viele Frauen dann doch noch von ihrem Schicksal. Der Gedanke, der Nachwelt zu erzählen, wie schlimm es einmal in Deutschland zuging, hilft ihnen dabei, ihre Geschichte loszuwerden.“

Und so erzählt auch Käthe heute, 70 Jahre danach, von dem fremden Mann und der Angst, die er hinterließ, um ihn endlich aus ihrem Kinderzimmer zu jagen.