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Eine Frau für schwere Zeiten

Mit dem Lichtblick-Start vor 19 Jahren begann Inge Erler als Sozialarbeiterin in der Diakonie Meißen. Nun hört sie auf und schaut auf eine Zeit zurück, in der sie vielen Menschen geholfen hat.

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© kairospress

Von Jörg Marschner

Den Fall, der sie zum ersten Mal mit Lichtblick in Berührung brachte, hat Inge Erler noch sehr gut in Erinnerung. Das war 1996, als die Hilfsaktion startete. In jenem Jahr begann auch sie ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin im Diakonischen Werk Meißen. Nach 19 Jahren hat die 64-Jährige nun aufgehört. Im September war ihr letzter Arbeitstag. Sie hat ihre Akten in Ordner einsortiert, und sie schaut zurück.

Damals sei Frau B. gekommen, eine Mutter von sechs Kindern aus einem Dorf bei Wilsdruff. Der Vater verdiente nur wenig. „Man sah ihr die Sorgen an, sie kam wegen einer Familienerholung.“ Das Gesetz sieht vor, dass sozial schwache Familien für einen Urlaub in Deutschland maximal für zwei Wochen Zuschüsse bekommen. Frau B. wollte wissen, welche Wege sie gehen muss. „Ganz beiläufig erzählte sie, dass sie in der SZ von Lichtblick gelesen hatte, dass sie das sehr gut finde und 20 Mark gespendet habe“, erinnert sich Inge Erler. Mehr sei nicht drin gewesen.

Wochen später, kurz vor Weihnachten, kam Frau B. wieder zur Diakonie, das Auto der Familie war kaputt und die Reparatur nicht erschwinglich. Da half kein Gesetz. Aber Lichtblick gab einen Zuschuss zur Reparatur. So blieb die Familie mobil, die auf dem Dorf lebt. „Frau B. hätte nie gedacht, dass sich ihre kleine Spende auf so wundersame Weise vermehrt“, erzählt Inge Erler.

So geht die Hilfe

Heute startet Lichtblick die 20.Spendenaktion. Im Dezember 1996 bat Lichtblick erstmals um Spenden für Menschen in Ostsachsen, die unschuldig in Not geraten sind. Lichtblick unterstützt auch Einrichtungen, die Flüchtlingen helfen. Wenn Sie speziell dafür spenden wollen, vermerken Sie beim Verwendungszweck das Stichwort „Asyl“.

Kontakt: Hilfesuchende wenden sich bitte an Sozialverbände, Sozialämter und gemeinnützige Vereine, mit denen Lichtblick zusammenarbeitet.

Erreichbar ist Lichtblick Montag bis Donnerstag 9 bis 16 Uhr, Telefon 0351/4864 2846, Fax - 9661, E-Mail: [email protected], Anschrift: Sächsische Zeitung, Stiftung Lichtblick, 01055 Dresden, Website: www.lichtblick-sachsen.de

Bankverbindung

Ostsächsische Sparkasse Dresden, IBAN: DE88 8505 0300 3120 0017 74, BIC: OSDDDE81

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Die Erinnerungen. An so einem Tag kommen viele wieder hoch. Inge Erler – eine freundliche, sympathische Frau, das grau-silberne Haar zum Pony geschnitten, die munteren graublauen Augen hinter einer randlosen Brille – setzt sich an ihren schon fast leer geräumten Schreibtisch. Der steht an einem großen Fenster im alten Johannesstift. Links stehen Schränke mit Ordnern, in denen Schicksale zu dürren Worten gerinnen. Gegenüber eine kleine Sitzgruppe und ein flacher Tisch. Öffnet sie die Tür zum verwinkelten Flur, sieht man die Stühle im Vorraum. An diesem Mittwoch sind sie leer; Sprechtage sind Dienstag und Donnerstag. „Da sah ich draußen oft Knie an Knie und fühlte mich manchmal fast am Ende“, sagt Inge Erler.

An der Wand zählt eine schmucklose Bürouhr Minuten und Stunden. Von der Zeit hat sie sich nie drängen lassen. Mal dauerte eine Beratung nur Minuten, mal fast eine Stunde – immer dann, wenn sie nicht nur Beraterin war, sondern Trösterin und Seelsorgerin. So wie vor Tagen, als eine junge Mutter zu ihr kam, deren fünfjähriger Sohn nach mehrmaliger Chemotherapie an Nierenkrebs gestorben war. Sein Bauch war zuletzt prall geschwollen wie ein Ball. Die Mutter erzählte der Sozialarbeiterin, wie sie ihrem Sohn gesagt habe, dass er bald auf eine weite Reise gehen würde und sie nachkomme. Kurz vor seinem Tod habe der Junge gesagt, ich glaube, ihr müsst euch jetzt anziehen. „Da fällt es einem schwer, ruhig zu bleiben“, sagt Inge Erler.

Da müsse sie die richtigen Worte finden, Zuspruch und Halt geben, und dennoch nüchtern prüfen, ob diese Mutter hilfebedürftig ist, wie es offiziell heißt. Denn nur mit begründeten Fakten konnte sie Hilfe beantragen. In dem Fall ging es um einen Zuschuss zu den Beerdigungskosten. „Da konnte oft nur Lichtblick helfen“, sagt sie.

Typisch für die Lichtblick-Hilfe sind andere Situationen. Inge Erler schildert einige. Auch die eines Vaters, der um sein Kind kämpfte, weil die Mutter drogensüchtig war. Er sollte das Kind nur zugesprochen bekommen, wenn er ihm ein eingerichtetes Kinderzimmer bieten konnte. Dazu war er finanziell nicht in der Lage. Die Sozialarbeiterin erinnert sich auch an Paare, die sich getrennt hatten, „... und plötzlich stand einer fast ohne alles da“. Da sei auch die Frau gewesen, die mit der kranken Tochter in einer verschimmelten Wohnung hauste, bis ein Gutachter endlich erkannte, dass sie sofort ausziehen muss. Das Amt gab der Frau sogar ein Darlehen für die Kaution der neuen Wohnung, doch die blieb leer, denn Geld, um die verschimmelten Möbel zu ersetzen, hatte die Frau nicht. „Oft stecken hinter solchen Fällen Langzeitarbeitslosigkeit oder auch lange Krankheit“, sagt Inge Erler.

Sie weiß selbst, wie es ist, wenn sich plötzlich alles im Leben ändert und die Zukunft voller Fragezeichen ist. Damals, 1990, hatte sie ihren Job im Stahl- und Walzwerk Riesa verloren. Da endete ihr gerader Berufsweg auf einmal: 10. Klasse-Abschluss, Lehre als Werkstoffprüferin mit Abitur, Studium, Entwicklungsingenieurin in der Forschung. Arbeit in der Werkstoffveredlung für Stähle mit sehr harter Oberfläche – „für Rennrodler, alles geheime Verschlusssache“, erzählt sie. Von heute auf morgen Null-Stunden-Kurzarbeit ohne Perspektive. Ein Schock.

Halt in der Familie, bei ihrem Mann und den vier Kindern half ihr, einen Neuanfang zu suchen. Ebenso wie ihr Optimismus. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen brachten nicht viel, aber Inge Erler knüpfte Kontakt in ein neues unbekanntes Arbeitsfeld, das immer wichtiger wurde und in dem sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellen konnte. Dann kam der Zufall zu Hilfe: Die Pfarrei in ihrem Wohnort Staucha brauchte eine Sozialarbeiterin und stellte Inge Erler ein. Weil sie auch den neuen Job gut machen wollte, begann sie ein Studium: dreieinhalb Jahre, berufsbegleitend. Sie büffelte nach Feierabend, meist an den Wochenenden und in den Ferien. „Das war anstrengend, hat aber Spaß gemacht und mir wahnsinnig geholfen.“ Im Sommer 1996 begann sie im Diakonischen Werk Meißen, als Kirchenbezirkssozialarbeiterin, zuständig für das Gebiet von Kesselsdorf bis Staucha und von Coswig bis Nossen.

So eindeutig wie in der Werkstoffforschung geht es in der Sozialarbeit nicht zu, da kommen unbekannte Menschen mit ihren Nöten, Verzweifelte, Einsame, Zaghafte, Fordernde, auch Täuscher. Jeder Fall ist anders und immer erst einmal offen. Ihre Grundsätze haben Inge Erler geholfen, damit fertig zu werden: Offen sein und die Würde eines jeden zu respektieren, auch die des Alkoholikers. „Was erwarten Sie von mir?“, habe sie die Leute immer zuerst gefragt. Zuhören und reden bewirken oft schon eine Menge. „Und nie den Emotionen die Oberhand überlassen“, sagt Inge Erler. Empfindlich war sie immer, wenn Leute ins Zimmer kamen, auf ihren Hartz-IV-Status pochten und verlangten: „Meine Waschmaschine ist kaputt, ich brauch ’ne neue.“ Für solche „Leute mit Nehmerqualitäten“ hat sie nicht viel Sympathie.

Die Sozialarbeiterin hat nicht Buch geführt, wie vielen Menschen sie in den bald zwei Jahrzehnten bei der Diakonie geholfen hat. „Es sind bestimmt mehrere Tausend“, sagt sie und sucht in einem Ordner die anonyme statistische Erhebung für das laufende Jahr. „Bisher haben wir schon über 300 Hilfsanträge gestellt. Wegen Mutter-Kind-Kuren beim evangelischen Müttergenesungswerk und wegen Familienerholung beim Freistaat.“ Wegen vieler anderer Einzelfälle ist sie an verschiedene Stiftungen und besonders oft an Lichtblick herangetreten. Denn die Diakonie selbst kann finanziell nicht unterstützen. Sie kann nur Wege zur Hilfe zeigen und bahnen.

Dabei spielen Diakoniebeauftragte in allen Kirchgemeinden eine große Rolle. „Die halten die Augen offen, wo sich soziale Probleme zuspitzen, und sie sind die ersten Ansprechpartner“, sagt Inge Erler. Noch etwas will sie unbedingt gesagt haben: „Für jeden Fall finanzieller Nothilfe gibt es einen Beleg, eine Quittung über die Verwendung des Geldes.“ Schließlich stünden hinter jeder Hilfe Spender, und ihr Auftrag sei es, mit dem Geld verantwortungsvoll umzugehen.

Inge Erler geht zur Tür, dreht sich um, blickt prüfend ins Zimmer. Es gibt nichts mehr zu tun, die fast zwei Jahrzehnte als Kirchenbezirkssozialarbeiterin sind penibel aufgeräumt. „Das gibt man nicht so leichten Herzens auf; das war wirklich eine ganz besondere Arbeit.“ Nie hätte sie gedacht, dass Arbeit mit den Menschen so viel innere Befriedigung geben kann. „Ich bin dankbar, dass ich diese Chance hatte“, sagt sie, und es klingt wie ein Schlusswort.

Mittlerweile ist sie schon acht Wochen Rentnerin und doch nicht im Ruhestand. „Da war nichts mit Faulenzen.“ Natürlich hat sie mehr Zeit für die Familie, ihren Mann, die vier Kinder und zehn Enkel. Außerdem wurde am Haus gebaut, Handwerker waren zu versorgen.

Und sie sei auch gleich in das Projekt eingestiegen, das sie sich als Ehrenamt vorgenommen habe. „Der Weiße Ring, die Organisation, die sich um Opfer von Gewalt kümmert, ist in unserer Region noch ein weißer Fleck. Das möchte ich ändern.“ Lichtblick verfolgt sie nur noch in der Zeitung, ihr Beitrag zur Hilfsaktion ist nun nur noch ihre Spende.