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Eine Anklage, zwei Geschichten

Ein Marokkaner bestreitet, in Dresden eine Frau vergewaltigt zu haben. Seine eigenen Verletzungen sind rätselhaft.

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© kairospress

Von Alexander Schneider

Kurz nach neun beginnt der Prozess am Landgericht Dresden. Zwei Justizbedienstete führen den Angeklagten durch den Saal. Ein gutes Dutzend Zuschauer, die meisten gehören offensichtlich zu einer Schulklasse, verfolgen den ersten Auftritt des 31-jährigen Nafaa B., ein Asylbewerber aus Marokko. Er trägt eine Jeans, die etwas zu groß ist, und eine bunte Jacke, die er den ganzen Tag über nicht öffnen wird. Justizmitarbeiter sind überrascht, dass nicht mehr Zuhörer diesen Prozess verfolgen.

Staatsanwalt Enrico Hofmann verliest die Anklage. Er beschreibt einen brutalen Angriff des 31-Jährigen auf die gleichaltrige Frau am 17. September. Sie sei an dem Donnerstag gegen 15.50 Uhr zu Fuß im Bereich der Zwickauer Straße/Nossener Brücke unterwegs gewesen. Der Angeklagte habe sie plötzlich von hinten mit den Armen umklammert, und schon da die Frau mit einer Glasscherbe am Hals im Bereich ihres Dekolletés verletzt – „um ihren Widerstand zu brechen“, so Staatsanwalt Hofmann.

B. habe „only Sex“ zu ihr gesagt. Dann zog er sie laut Anklage über ein Treppengeländer und – an Haaren – in ein Gebüsch. Dort habe er sie in die Knie gezwungen, damit sie ihn oral befriedigt. Als sie sich weigerte, habe er ihr mehrmals mit der Hand auf den Kopf geschlagen. Er habe auch mit der Frau Geschlechtsverkehr durchführen wollen, doch das klappte nicht. So habe er sie erneut zum Oralsex gezwungen. „Das ist strafbar als besonders schwere Vergewaltigung“, sagt der Staatsanwalt.

Nafaa B. hat sich bei Vernehmungen geäußert, jedoch eine ganz andere Geschichte erzählt. Er bestreitet die Vorwürfe. B. behauptet, er habe mit der Frau einvernehmlichen Sex gehabt. Er habe den ganzen Tag über etwa acht Flaschen Bier getrunken und – im Hauptbahnhof – eine Linie Kokain gezogen. Nachmittags habe er sich an einer Grünfläche an der Brücke aufgehalten, einem Treff von Asylbewerbern des Heims in der Tharandter Straße. Da sei die Frau aufgetaucht, sie sei unruhig gewesen, habe geweint. Beide seien miteinander ins Gespräch gekommen, er will ihr Komplimente gemacht haben wie, sie habe „schöne Augen“. Dann hätten sie in dem Gebüsch Oralsex gehabt. Anschließend seien zwei Männer aufgetaucht, die offenbar zu der Frau gehörten. B. sagte, er sei von ihnen zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Einer habe Tunnel-Ohrringe getragen. Er sei ins Heim gerannt und von dort in eine Klinik gebracht worden. Dort kündigte er nach eigener Darstellung an, die Männer anzuzeigen.

Festnahme in der Klinik

Die Polizei nahm den Mann in der Klinik fest. Er hatte tatsächlich erhebliche Verletzungen – lange, tiefe Schnittwunden an den Unterarmen, Blessuren im Gesicht. B. muss stark geblutet haben. Die Beamten erkannten ihn auch anhand seiner Verletzungen, die ihnen die Geschädigte beschrieben hatte. Er ist Automechaniker und kam im vergangenen Jahr über die Türkei nach Deutschland, um hier einen Job zu finden. Zu Hause habe er eine Ehefrau und einen Sohn. Er habe noch sechs weitere Berufe, aber keine Arbeit gefunden. Ob das alles stimmt? Ein Rechtsmediziner sagt, Kokain habe B. nicht im Blut gehabt, aber Crystal- und Cannabis-Spuren.

Doch die Frage nach der Herkunft der Verletzungen macht den Fall interessant. Während B. behauptet, sie seien nach dem Treffen mit der Frau von den Männern verursacht worden, sagt die Geschädigte, B. sei bereits verletzt gewesen, ehe sie von ihm angegriffen worden sei. Wie die 31-jährige Dresdnerin das Geschehen schildert, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Wie in Vergewaltigungsprozessen üblich, vernimmt das Gericht sie hinter verschlossenen Türen. Es dauert mehr als eine Stunde – wohl, weil B. die Tat nicht gestanden hat, und das Gericht deshalb Details aufklären muss. B. hatte ein Angebot des Richters ausgeschlagen, sich zu einem Geständnis durchzuringen. Ihm drohen fünf bis 15 Jahre Haft.

Der Freund des Opfers sagt, die 31-Jährige habe ihn um 16.03 Uhr angerufen, er sei sofort zu ihr gefahren. Die Tat belaste beide massiv. Seine Freundin sei ängstlicher geworden. Manchmal müsse er sie zur Arbeit fahren, weil sie sich nicht gut fühle. Die Frage nach Freunden mit Tunnel-Ohrringen beantwortete er nur widerwillig.

Nach den Zeugenaussagen des Paars sagt Verteidiger Carsten Brunzel: „Jetzt glaube ich meinem Mandanten.“ Es gebe zu viele Ungereimtheiten, etwa bezüglich der erheblichen Verletzungen. Staatsanwalt Hofmann hält eine andere Version für möglich. Der Angeklagte, so sagt er, habe sich die Schnittwunden an den Armen möglicherweise selbst beigebracht. Der Prozess wird am 25. Januar fortgesetzt.