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Ein Schatz in Scherben

In der Porzellanmanufaktur Freital verfällt seit Jahren das Wertvollste: das Modelllager. Und der Chef schaut zu.

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Von Thomas Schade

Eine Tür mit Sicherheitsschloss verwehrt den Zugang zum Ort des Verfalls. Über das Dach käme man am ehesten ins Innere der Baracken. Denn vom Dach ist ein Teil schon eingestürzt. Hinge nicht das blaue Schild an der Wand, man würde es kaum glauben. Aber die Flachbauten, an denen stellenweise Putz fehlt, gehören zur Sächsischen Porzellanmanufaktur in Freital-Potschappel, dem nach Meissen bekanntesten Porzellan-Hersteller Sachsens.

Betroffen sind auch Formen, aus denen Prunkvasen entstehen. Diese Vase stammt aus der Zeit um 1890 und steht heute im Honolulu Museum of Art, einem der bedeutenden US-Kunsttempel. Foto: Wiki
Betroffen sind auch Formen, aus denen Prunkvasen entstehen. Diese Vase stammt aus der Zeit um 1890 und steht heute im Honolulu Museum of Art, einem der bedeutenden US-Kunsttempel. Foto: Wiki
Armenak S. Agababyan, der Eigentümer Foto: Eric Münch
Armenak S. Agababyan, der Eigentümer Foto: Eric Münch
Olaf Stoy, ehemals Chefmodelleur, der MahnerFoto: Karl-Ludwig Oberthür
Olaf Stoy, ehemals Chefmodelleur, der MahnerFoto: Karl-Ludwig Oberthür

Die Schuppen mit den verwitterten Ziegelwänden bilden einen grotesken Kontrast zur weißen Fassade des stattlichen Viergeschossers auf der anderen Seite der Straße. Sie ist nach Carl Thieme benannt – dem Mann, der an dieser Stelle 1872 die Porzellanmanufaktur gründete. Mit fast 50 Jahren entschloss sich der Dresdner Hausmaler und Porzellanhändler, selbst die begehrten weißen Scherben herzustellen. So zog er nach Potschappel, einem Industriedorf vor den Toren der Residenzstadt. An der Wiederitz baute Thieme seine Fabrik und wenige Jahre später zwei Baracken, weil die vielen Gipsformen und Modelle seiner wachsenden Produktpalette im Haupthaus bald keinen Platz mehr fanden. So beherbergen die Schuppen seit über 100 Jahren das Modelllager der Firma.

Olaf Stoy kennt diese Sammlung seit fast 40 Jahren. Viele Jahre davon hat er sie selbst betreut. Mehr als zehn Jahre war er Chef-Modelleur der Manufaktur – bis zu seiner Entlassung 2003. Seither ist der gelernte Keramformer als freiberuflicher Porzellanplastiker und Medailleur künstlerisch tätig. 300 Modelle hat er selbst zu diesem Modellschatz hinzugefügt – eine Weihnachtskrippe zum Beispiel oder die lebensgroße Figur eines Gerfalken.

Stoys Arbeiten sind wie die Schöpfungen vieler anderer Modelleure in drei großen Modellbüchern verewigt. Seit 1897 werden sie fortlaufend geführt. Eine durchbrochene Wandkonsole trägt die Modellnummer 1. Etwa 12 500 fortlaufende Nummern seien in den Büchern eingetragen, sagt Stoy. „Das zu Papier gebrachte Gedächtnis einer über 140 Jahre alten Firma.“ Die Modellbücher allein wären wenig wert. Zu jedem Eintrag gehören die Kernstücke, Mutterformen und Modelleinrichtungen aus Gips, die in den ruinösen Baracken lagern. Insgesamt, so Stoy, seien es etwa 200 000 Gipspositive, denn es gebe Produkte wie Prunkvasen oder Tierplastiken, die bestünden aus bis zu 50 Einzelteilen. Mit Schellack seien diese Urformen versiegelt.

Ohne sie wäre die Porzellan-Herstellung kaum möglich. „Bestellt ein Kunde eine Vase oder eine Figur, so taucht deren Modell aus dem Dunkel des Archivs wieder auf und wird, wenn nötig, aufgearbeitet“, erklärt Stoy. Dann werde von dem Modell eine Arbeitsform aus Gips abgenommen. Modelleure hätten zudem die Aufgabe, verschlissene Mutterformen und Modelle zu restaurieren. Im Freitaler Modellarchiv sei das inzwischen kaum noch zu leisten, sagt Stoy. Er geht davon aus, dass 60 bis 70 Prozent des Bestandes schon zerstört sind.

Viele dieser Formen aus den ersten
Manufaktur-Jahren entstanden auf Anregung des Blumenmodelleurs Carl August Kuntzsch (1855–1920), einem Schwiegersohn des Firmengründers. Kuntzsch habe die Manufaktur 1888 übernommen und zum wirtschaftlichen Erfolg geführt. In jener Zeit, so erzählt Olaf Stoy, existierten Dutzende Hausmalereien in Dresden und Umgebung. Alle verlangten nach weißem Porzellan, das mit Malereien und Staffagen veredelt wurde. „Nicht nur der Edelmann wollte sich bemaltes Weißes Gold in die gute Stube und auf den sonntäglichen Mittagstisch stellen.“ Es seien die Jahre gewesen, in denen bis zu acht Modelleure ständig Neues schufen und die Zahl der Formen und Modelle rasant wuchs. „Kein Wunder, dass die Modelle bald ausgelagert werden mussten“, sagt Olaf Stoy.

Es ist nicht so, dass seit jenen Jahren nichts getan wurde, um das Modelllager zu erhalten. Im Gegenteil. „Es überstand zwei Weltkriege, zwei schwere Hochwasser, die sozialistische Planwirtschaft und auch den Übergang zur Marktwirtschaft“, sagt der 55-Jährige, und man hört die feine Ironie in seinen Worten. All die Jahre lagerten die Formen und Modelle in Holzregalen aus groben Pfosten und Latten. Repariert wurde über die Jahre, wenn es nötig war. Immer wieder habe es Ansätze gegeben, auch die Gebäude zu stabilisieren. Ende der 80er-Jahre sanierte der VEB Sächsische Porzellan-Manufaktur Dresden, Sitz in Freital schließlich etwa ein Fünftel des Lagers. Auf dieser Fläche wurde ein Betonfußboden eingezogen und Metallregale daraufgestellt. Auf dem größeren Teil des Areals blieben die alten Holzkonstruktionen auf dem vor einhundert Jahren gestampften Boden stehen. Als der nichtsanierte Teil des Schuppens Anfang der 90er-Jahre einzustürzen drohte, ersetzte man einige morsche Balken des Flachdaches durch Stahlträger. Auch eine Alarmanlage wurde installiert und eine neue Stahltür eingesetzt.

Zu dieser Zeit, so erinnert sich Olaf Stoy, war das Modellarchiv noch vollständig erhalten und erfüllte seine Funktion. „Man konnte auf die historisch wertvollsten und formschönsten Stücke des riesigen Portfolios der Manufaktur zurückgreifen.“ Stoy schwärmt von Bodenvasen, Kaminuhren, Parfümflakons und Möbelteilen, die seit Jahrzehnten nicht hergestellt worden waren. Als Betreuer der Sammlung entdeckte er um die Jahrtausendwende eine der Raritäten wieder – das Puppengeschirr der Queen Mary, ein Stück Freitaler Manufakturgeschichte.

Emil Kuntzsch, ein Enkel des Firmengründers und anfangs wenig mit der Freitaler Manufaktur verbunden, war in den 1920er-Jahren nach England gegangen und hatte es in London bis zum Leiter der Porzellanabteilung des Nobelkaufhauses Harrods gebracht. Dort war es nur eine Frage der Zeit, bis er einer hochadeligen Dame mit deutschen Wurzeln begegnete – Queen Mary. „Die damalige englische Königin war versessen auf Miniaturen“, erzählt Olaf Stoy. Bald durfte der Sachse sogar Vorträge über Porzellankunst am Hofe halten. Dabei sollen die hohen Herrschaften vor allem wegen des sächsisch gefärbten Englischs Gefallen an Emil Kuntzsch gefunden haben. Elisabeth, Queen Marys Tochter, bestellte bei Kuntzsch 1924 ein komplettes Kaffeeservice samt Badzubehör in Miniaturgröße. Sie wollte mit den walnussgroßen Tellern und Tassen ihrer nippesversessenen Mutter eine voll eingerichtete Puppenstube schenken. Freital lieferte prompt.

„Natürlich war die Geschichte bekannt“, sagt Olaf Stoy. Aber die Gipsformen galten als verschollen – bis sie der Chefmodelleur 2001 zufällig im Archiv entdeckte. „Wir haben sie restauriert und das Service nochmals in limitierter Auflage angefertigt.“ Nummer eins der Edition ging erneut nach London. Die Freitaler schenkten es Königin Elisabeth II., der Enkelin von Queen Mary, zum 75. Geburtstag.

„Geschichten wie diese verstecken sich viele in so einem Archiv“, sagt Olaf Stoy. So würden in den Baracken Modelle und Mutterformen liegen, die noch nie oder nur ein-, zweimal in Porzellan umgesetzt wurden. Wie die Vatikanvase. Eine mannshohe Deckelvase mit blauer und golddurchzogener Blumenmalerei. Diese sei 1912 zweimal gefertigt worden, sagt Stoy. „Eine steht im Vatikan, daher der Name. Die andere zählt zu den Prunkstücken der fast 4 000-teiligen Mustersammlung der Manufaktur und stand bis Mai 2013 im Freitaler Mustersaal. Dann ließ sie der Freistaat in die Sächsischen Kunstsammlungen bringen. Eine Sicherungsmaßnahme, wie es hieß. Die Manufaktur stand wieder mal vor dem Aus.

Die Modellsammlung jedoch überließ man ihrem Schicksal. Das ist nicht zu trennen von der wechselvollen Entwicklung, die die Manufaktur in den letzten 25 Jahren durchlebte. Mit der Wende fiel der Traditionsbetrieb in die Hände der Treuhand. Die verkaufte ihn an eine französische Firma namens Manufaktur de Sax. Hinter der stand eine Investorengruppe. Die verlor rasch das Interesse, als Gerichte entschieden, dass sie über das wichtigste Kapital der Manufaktur nicht verfügen konnten – die Mustersammlung, die mit mehr als einer Million D-Mark in der Eröffnungsbilanz stand.

Um die Sammlung entbrannte ein langer Rechtsstreit, mit dem auch der nächste Eigentümer zu tun hatte: Jürgen Wegner, ein Kunstmäzen, der mit der Manufaktur viel vorhatte, sie aber auch in die Pleite führte. Danach kauften zwei Mitarbeiter den Betrieb, mussten aber 2002 ebenfalls Insolvenz anmelden. Zu der Zeit war die Belegschaft von 180 Mitarbeitern 1990 auf 19 Mitarbeiter zusammengeschrumpft. „Inzwischen war auch der Markt für die Hersteller von Edel- und Zierporzellan immer schwieriger geworden“, sagt Olaf Stoy.

Als schließlich die Hillebrand GmbH, eine Bau- und Investment-Gruppe, 2005 die Manufaktur übernahmen sollen Freudentränen in Freital geflossen sein. Zu früh, wie sich zeigte, denn die Kinder des „Burgenkönigs“ Herbert Hillebrand verkauften die Firma nach drei Jahren wieder. „Noch vor zehn Jahren hätte der Verfall mit ein paar Rollen Dachpappe und einigen Fensterscheiben aufgehalten werden können“, sagt Olaf Stoy. Aber ehe man den jeweils neuen Eigentümer davon überzeugen konnte, sei der schon wieder weggewesen.

Nun ruhen die Hoffnungen auf dem russischen Textilunternehmer Armenak S. Agababyan. Er ist seit 2008 alleiniger Eigentümer der Manufaktur. Als Agababyan Ende März 2008 die Manufaktur übernahm, leuchtete der Orden eines Helden der Arbeit an seinem Revers, angeblich persönlich angeheftet von Russlands Präsident Putin. Ihm liege „die Erhaltung der künstlerischen Tradition am Herzen“, erklärte Agababyan. Er plane, „mehrere Hunderttausend Euro“ für den Neubau eines Modelllagers“ ein. Getan hat sich nichts. Im Gegenteil: Agababyan hat den Verfall mit zu verantworten. „Wir haben ihn wiederholt gebeten, zu handeln und den Verfall aufzuhalten, aber er hat nie reagiert“, sagt Olaf Stoy. Auch jetzt lässt das Unternehmen Anfragen zum Zustand des Formenarchives unbeantwortet.

Für die Sanierung der alten Baracken ist es nach Ansicht des Freitaler Künstlers Olaf Stoy zu spät. „Die Gebäude sind zu marode, die Regalreihen fallen, zersplitterte Gipsmodelle liegen am Boden, versperren den Weg und sind dem eindringenden Wasser preisgegeben. Das zerstört die fein geschnittenen Gesichter und Reliefs.“

Rettungsversuche gab es dennoch. Ein Projekt der Stadt Freital und der TU Freiberg sah vor, dass Studenten das Archiv bergen und wissenschaftlich bearbeiten. Es scheiterte am Eigentümer, heißt es im Freitaler Rathaus. Bürgermeister Klaus Mättig ist gegenwärtig dabei, ein neues Bündnis zur Rettung des Archivs zu schmieden, will aber noch nicht darüber reden, „weil noch nicht alles klar ist“, wie er sagt. „Aber am Ende geht nichts ohne den Eigentümer.“

Vorsorglich hat das Landesamt für Denkmalpflege die Modellsammlung im vergangenen Jahr unter Denkmalschutz gestellt. Der Sammlung komme „eine große produktionsgeschichtliche Bedeutung“ zu, heißt es in der Begründung. Die Denkmalschützer mahnen: Es bestehe „dringender Handlungsbedarf“.

Die erschütternden Bilder aus dem Inneren des Archivs stammen aus dem Jahr 2010. „Den Schwankungen von Temperatur und Feuchtigkeit ausgesetzt, löst sich die Sammlung seither allmählich auf“, sagt Olaf Stoy und fügt fast tonlos hinzu: Das künstlerische Erbe, die kulturhistorische Tradition der 140-jährigen Manufaktur verschwinde derzeit lautlos. „So kann ein Schatz sterben, das hätte ich nie für möglich gehalten.“