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Ein riesengroßes Glück

Auf dem Schelzig-Hof in Niesendorf wohnen vier Generationen unter einem Dach. Für die Uroma haben die Eltern ihr Wohnzimmer geräumt – als ob das ganz selbstverständlich wäre.

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Von Jana Ulbrich (Text) und Wolfgang Wittchen (Foto)

Die Omi kommt an die Stirnseite. Da passt sie am besten hin. Gerda Schelzig schiebt ihre Mutter geschickt ans Tischende. Einfach ist das nicht mit dem Rollstuhl im schmalen Esszimmer. Wo doch schon der große Tisch den halben Raum einnimmt. Die Omi im Rollstuhl lächelt versonnen. 97 ist Martha Symank vor Kurzem geworden, ein Leben lang hat sie gearbeitet. Jetzt hört sie ein bisschen schwer und schafft es auch nicht mehr alleine. Als vor einem Jahr die Frage stand, was mit ihr werden soll, haben Gerda und Siegfried Schelzig ein Pflegebett besorgt und ihr Wohnzimmer geräumt. Da wohnt jetzt die Omi mit Blick in den Garten und über die Felder. Sie wird hier wohnen bleiben, solange Gott das will. Für Gerda und Siegfried Schelzig ist das ganz selbstverständlich. Sie sind beide schon im Rentenalter. Und das kleine Esszimmer reicht ja auch.

Der Tisch, der den halben Raum einnimmt, bleibt praktischerweise gleich ausgezogen. Zum Essen kommen noch Tobias und Christina, der Sohn und die Schwiegertochter. Und natürlich Noah, der kleine Sonnenschein mit den großen blauen Augen. Wenn Noah kommt, strahlt gleich das ganze Zimmer. So ein aufgeweckter, kleiner Quirl aber auch. Welche Freude, dass die Großeltern den Zweieinhalbjährigen jeden Tag bei sich haben können. „Das ist für uns ein riesengroßes Glück“, sagt Opa Siegfried. „Wie vielen Großeltern ist das denn schon vergönnt.“

Vier Generationen wohnen auf dem Schelzig-Hof in Niesendorf nördlich von Bautzen. Zwar haben die jungen Leute ihre eigene Wohnung oben im früheren „Ausgedinge“, aber gegessen und gelebt wird in diesem Haus gemeinsam. Schön ist es hier draußen im Lausitzer Heide- und Teichland. Richtig idyllisch. Der Hof ist akkurat gepflastert und saniert. Am Tor endet die Dorfstraße. Gleich hinterm Haus beginnen die Wiesen, die Felder und Wälder. Ein Paradies ist das hier für aufgeweckte kleine Quirle wie Noah.

Der Enkel klettert auf Opas Schoß. Opa hat ihn heute aus dem Kindergarten abgeholt. Mit Noah hat die siebente Generation auf dem Schelzig-Hof Einzug gehalten. Opa Siegfried kann die Familiengeschichte bis 1750 zurückverfolgen. 1876, nach einem großen Dorfbrand, hat Ururahn Andreas Schelzig den Hof gebaut. „A. Sch.“ – so steht es noch heute überm Türstock. Seit es den Hof gibt, leben hier die Eltern mit ihren Kindern und deren Kindern zusammen. Immer wieder neu. Anders können es sich die Schelzigs gar nicht mehr vorstellen. Und so ist es ja seit Jahrhunderten Tradition in den Dörfern der Lausitz. Es wurde geboren und gestorben in den Häusern. Wenn die Alten bettlägerig wurden, kamen sie ins „Ausgedinge“, eine warme Kammer unterm Dach. Hier bekamen sie Wohnrecht und Pflege bis ans Lebensende. Und wenn die Jungen immer mehr wurden, wurde eben zusammengerückt – oder angebaut.

Schelzigs müssen jetzt auch anbauen. Im Mai kommt Noahs Geschwisterchen zur Welt. Und zu viert wird es auf Dauer wohl ein bisschen eng in der kleinen Wohnung oben. Der Dachausbau ist schon geplant. Er wird gemeinsam bezahlt. Auch das ist selbstverständlich hier. Gerda und Siegfried Schelzig haben den Hof schon vor einer Weile auf die Kinder überschrieben. Sie zahlen keine Miete. Die Kosten werden einfach geteilt.

Tobias ist heute früher nach Hause gekommen. Der 36-Jährige arbeitet als Physiotherapeut im Bautzener Krankenhaus. Da kann Christina gleich den Kaffee ausgießen. Die junge Frau kennt sich aus in Schwiegermutters Küche. Als sie und Tobias 2009 auf den Hof zogen, haben sie ein ganzes Jahr lang mit den Eltern in einer Wohnung gelebt. So lange, bis das „Ausgedinge“ oben ausgebaut war. Es hat nie wirklich Probleme gegeben, versichert Christina mit sanftem Lächeln. Man will es der jungen Frau sofort glauben, so freundlich, respektvoll und entspannt ist der Umgang der Familienmitglieder untereinander. Wenn sie will, sagt die 30-Jährige, könne sie ja ihre Wohnungstür hinter sich zumachen. Oft geschieht das nicht. Die jungen Leute haben zwar ihre eigene Haustür, im Inneren des Hauses sind die Wohnungen aber verbunden. Und die meisten klingeln sowieso gleich bei „Familie Schelzig“ vorne am Haupteingang.

Vor dem Essen reichen sich alle am Tisch die Hände. „Gesegnet sei das Kaffeetrinken.“ Auch das ist schon immer so in diesem Haus. Schelzigs leben ihren Glauben. Vor dem Frühstück wird die tägliche Losung gelesen. Und sonntags gehen alle gemeinsam in die Kirche. Nur sorbisch wird heute nicht mehr gesprochen im Haus. Gerda und Christina stammen nicht von hier. Und niemand wollte sie ausgrenzen. Schon damals nicht, 1960, als Gerda auf den Hof kam – zu ihrem Mann, zu den Schwiegereltern und der Schwägerin, die hier gemeinsam lebten.

Die 73-Jährige lächelt. „Ich könnte es mir alleine überhaupt nicht mehr vorstellen“, sagt sie. „Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir so eng zusammen sein können. Wir empfinden das als eine große Bereicherung.“ Gerda Schelzig hat 32 Jahre lang als Kindergärtnerin gearbeitet. Wie viele zerrüttete Familienverhältnisse hat sie in den Jahren erlebt, wie viele unglückliche Kinder, die sich nirgendwo so richtig geborgen fühlten. Christina, die als Lehrerin an den freien evangelischen Mittelschulen in Königswartha und Gaußig arbeitet, erlebt das heute genauso. Selbst Tobias merkt das bei seiner Arbeit als Physiotherapeut. Oft, wenn er den Rücken behandelt, sagt er, müsste er eigentlich die Seele behandeln. Er hat das Gefühl, als würde das ein immer größeres Problem. Der familiäre Halt geht vielen verloren.

„Guckt mal alle!“ Der kleine Noah hat die Erwachsenen aus ihren Gedanken geholt. Er ist von Opas auf Uromis Schoß geklettert. An der Stirnseite hat er mehr Platz für sein Puzzle. Ganz alleine hat er das Bild zusammengesetzt. Ruckzuck ging das. Jetzt kuschelt er sich an die Omi wie ein Kätzchen. Der alten Frau tut die Nähe des Kleinen gut. Sie streicht ihm sanft über den Kopf. Wenn es jetzt endlich wärmer wird, werden sie alle wieder draußen sein im Garten. Dann decken Gerda und Christina die lange Tafel unter den Bäumen oder im ausgebauten Kuhstall. Dann kommt auch die Familie von Tobias’ Schwester, die in Dresden wohnt, zum Essen. Dann toben vier Kinder im Garten, und die ganze Familie ist zusammen. Es gibt nichts Schöneres. „Familie, das ist Halt und Trost und Hilfe und Fundament“, sagt Tobias Schelzig. „Vieles andere wird da nebensächlich.“

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