Merken

Ein Paradies – aber nicht für alle

Siegfried Deinege, Oberbürgermeister von Görlitz, über Vorteile und Nebenwirkungen des starken Zuzugs von Rentnern.

Teilen
Folgen
NEU!
© Ronald Bonß

Herr Deinege, Görlitz hat sich in den vergangenen zehn Jahren einen Namen als Seniorenparadies gemacht. Wie finden Sie das?

Ich finde es zunächst mal gut, dass wir uns einen Namen gemacht haben. Aber Seniorenparadies ist nur eine Facette. 80 Prozent meiner Arbeitszeit verwende ich darauf, junge Leute in meiner Stadt zu halten. Aber richtig ist, dass wir in unserer schönen Stadt mit 4 000 architektonischen Denkmalen bei Senioren punkten.

Diese Stadt ist seit Jahrhunderten in ihrer Grundsubstanz erhalten, sie blieb im Krieg nahezu unzerstört und ist heute weitgehend saniert. Zudem hat Görlitz ein attraktives Umfeld: ein neuer See ganz in der Nähe, dem man seine Bergbauvergangenheit kaum ansieht. In 30 Minuten ist man von hier im Isergebirge, in 40 bis 50 Minuten im Riesengebirge. Alles das zieht ältere Menschen in die Stadt.

Görlitz hat in seiner Geschichte schon einmal Senioren angezogen.

Ja, in preußischen Zeiten kauften viele Berliner Häuser. Sie legten hier ihr Geld an und lernten Stadt und Umland schätzen. Diesen Ansatz haben wir jetzt erfolgreich wiederbelebt. Dazu kommt: In Görlitz kann man im Deutschlandvergleich ausgesprochen günstig wohnen. Senioren ziehen vor allem in die großen Wohnungen der Gründerzeitviertel. Da beginnen die Preise bei 6,50 Euro pro Quadratmeter. Solche Wohnungen könnte man in Bayern gar nicht bezahlen.

Wie viele Senioren sind denn bisher nach Görlitz gezogen?

Seit der Wende mögen es einige Tausend sein, die in Görlitz eine neue Heimat gefunden haben. Seit dem Jahr 2011 beobachten wir, dass sich dieser Trend verstärkt. Damals sind es noch 251 gewesen. Unter den 2 716 Zugezogenen im Jahr 2014 sind 318 Senioren. Auch dieser Zuzug hat dazu beigetragen, dass die Stadt nicht mehr schrumpft. Wir liegen jetzt bei gut 56 200 Einwohnern.

Görlitz wächst – das hätte noch vor wenigen Jahren kein Mensch für möglich gehalten.

So ist es. Schließlich ist dieses Wachstum auch möglich, weil wir einige Sonderprogramme für junge Görlitzer aufgelegt haben, damit sie hierbleiben. Zu diesem Trend trägt auch bei, dass allein im vergangenen Jahr etwa 1 000 Polen in die Stadt gezogen sind, insgesamt sind es jetzt 2 200 – vielfach motiviert durch den Mindestlohn.

Was hat die Stadt von den Neubürgern?

Wenn Menschen die Grundsatzentscheidung treffen, hier ihren Lebensabend zu verbringen, haben sie in der Regel ein solides finanzielles Fundament mitgebracht und wollen hier angenehm leben. Das bringt Geld in die Kassen der Stadt und der Unternehmen. Die Zuzügler bringen aber auch Ideen mit, sie engagieren sich in der Stadt – und das belebt. Ein Beispiel: Wir haben einen Seniorenbeirat, dem ist ein Seniorenkompetenzteam angegliedert.

Davon ist sicher die Hälfte der Mitglieder von auswärts. Juristen sind dabei, Polizisten, Lehrer. Sie bringen Erfahrungen aus ihrer Heimat ein, sie bieten sich an für die Kinder- und Jugendbetreuung, sie knüpfen Kontakte über die Grenze hinweg. Das ist beeindruckend.

Und Sie können leer stehende Wohnungen in der schönen Innenstadt füllen.

Es geht gar nicht so um die Innenstadt. Da ziehen vor allem junge Leute hin, der Altersdurchschnitt liegt hier unter 40 Jahren. In anderen Stadtgebieten liegt der Schnitt eher bei 50 oder mehr Jahren. Diese Gründerzeitviertel wollen wir jetzt durch Förderprogramme attraktiver und barrierefrei gestalten, damit die Senioren auch da bleiben wollen.

Haben die Neubürger besondere Erwartungen, auf die Sie sich einstellen müssen?

Sie wollen das Leben hier genießen und stellen hohe Anforderungen an die Infrastruktur. Die Straßen müssen in Ordnung sein, sie erwarten ein gutes Radwegenetz. Auch das Thema behindertengerechte Straßenbahn spielt da hinein.

Die reiche Görlitzer Theater- und Museumslandschaft kommt gut an bei ihnen, unsere beiden Kliniken werden geschätzt. Im Handel muss etwas passieren. Unsere Neubürger wollen qualitätsvoller einkaufen. Das neue alte Kaufhaus geht in diese Richtung.

Können Sie Ihr Modell anderen Bürgermeistern empfehlen?

Wir können in unserer strukturschwachen Gegend jeden Senior selbst gut gebrauchen. Aber im Ernst: Klar, wir haben Erfahrungen, wir haben eine eigene Willkommenskultur entwickelt. Solche Erfahrungen gebe ich gern weiter. Manchmal denke ich, wir müssten ein Autobahnschild aufstellen, damit sich viele Leute unsere Ergebnisse ansehen.

Aufschrift: Seniorenparadies Görlitz?

Ein Paradies ist es längst nicht für alle. Wir haben in Görlitz seit 25 Jahren zweistellige Arbeitslosenquoten. Das trifft vor allem jene, die in den 90er-Jahren ihre Arbeit verloren und es nicht geschafft haben, wegzugehen. Sie beziehen lange Hartz IV, inzwischen auch viele ihrer Kinder. Auch diese Görlitzer kommen ins Rentenalter. Dann haben wir hier Altersarmut. Das betrifft derzeit immerhin etwa 2 000 Menschen. Da muss jetzt viel passieren: Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum, Hilfsangebote und vieles mehr.

In Görlitz gibt es also beide Pole: besonders wohlhabende und besonders arme Senioren?

Ja, um beide Gruppen müssen wir uns bemühen. Und wie ich schon am Anfang unseres Gespräches sagte, kümmere ich mich besonders um die Jüngeren. Die müssen wir halten, weil sie die sogenannte Sandwichschicht dazwischen sind. Von dieser Generation lebt eine Stadt – und sie ist heute viel zu klein. Wir wollen also nicht nur eine seniorenfreundliche, sondern auch eine familienfreundliche Stadt sein. Deshalb investieren wir auch in Kitas und Schulen.

Letzte Frage: Sie sind jetzt 61. Wo wollen Sie mal Ihre Rente genießen?

Schwierige Frage. Ich bin ja nach vielen Jahren des Manager-Daseins im Ausland erst vor wenigen Jahren nach Görlitz zurückgekommen. Meine Frau hatte damals sehr darauf gedrängt. Und wenn man nach langen Jahren wiederkommt, dann sieht man erst recht, was das für eine tolle Stadt ist und welches Potenzial sie hat.

Wir sind gern hier. Ich kann mir mein künftiges Leben so vorstellen: ein halbes Jahr hier und ein halbes Jahr da, wo Wald und Wasser ist. Ich hab da so ein wundervolles altes Bauernhäusel gesehen ... Mal sehen, ob ich meine Frau überzeugen kann.

Das Interview führte Olaf Kittel.

Zum Thema Altersvorsorge findet am 29. Juni ein Telefonforum statt. Auf Fragen der SZ-Leser antworten 14 bis 16 Uhr unter den Nummern 0351 4862805/2806/2807 eine Finanzexpertin der Verbraucherzentrale Sachsen, ein Vertreter der Sparkassenversicherung Sachsen und ein Versicherungsberater.