Merken

Ein Held und sein Alltag

Als Bürgermeister von Heidenau hat Jürgen Opitz für vieles Verständnis. Doch an einem Punkt, sagt er, hört der Spaß auf.

Teilen
Folgen
NEU!
© kairospress

Von Karin Großmann

Straßenreinigung ist ja auch ein tolles Thema. Wie viel Meter Gehweg hat einer zu schippen bei Schneefall, und was ändert sich daran, wenn die Bundesstraße zur Staatsstraße wird? Selbst wenn niemand mit dem Zollstock nachmisst: Ordnung muss sein. Deshalb braucht die Stadt eine neue Satzung. Alltag des Bürgermeisters.

Bei Hans und Gertraude Laurich macht der Heidenauer Bürgermeister einen Geburtstagsbesuch.
Bei Hans und Gertraude Laurich macht der Heidenauer Bürgermeister einen Geburtstagsbesuch. © Thomas Kretschel
Jürgen Opitz begrüßt die Bundeskanzlerin beim Besuch im Erstaufnahmelager in Heidenau Ende August.
Jürgen Opitz begrüßt die Bundeskanzlerin beim Besuch im Erstaufnahmelager in Heidenau Ende August. © Daniel Förster

Aber das andere läuft immer mit, es ist immer da, ausgesprochen oder nicht.

Vorher hatte Jürgen Opitz manchmal sein Handy ausgeschaltet. Jetzt nicht mehr. Es kann jederzeit was passieren. Dann ist Heidenau wieder dran. Die Medienleute haben die Adresse gespeichert als Synonym für geistige Grenzverletzung und Ausländerhatz. Was für ein infamer Aufruhr war das im August vor dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt, der zum Erstaufnahmelager für 700 Flüchtlinge wurde. Wie viel Brutalität stand in den Gesichtern der Gegner.

Dann tauchte dieses andere Gesicht auf. Lachfältchen um die dunklen Augen, zarte Brille, Grübchen im Kinn. Plötzlich stand da ein Politiker auf der Straße, der geradeaus sprach. Er wirkte glaubhaft. Er zeigte klare Kante gegen extreme Rechte. Für Beobachter der politischen Szene eine sensationell neue Erfahrung.

Jürgen Opitz erzählt von einem Kollegen, der kürzlich anrief: Sie hätten da ähnliche Angriffe auf eine Flüchtlingsunterkunft, und ob er einen Rat wüsste. Er wusste: Sag die Wahrheit. Für Opitz bedeutet das auch: „Das Grundgesetz spricht von der Würde des Menschen, und damit ist jeder Mensch gemeint, nicht nur jeder deutsche.“ Und: „Wer sagt, wir müssen den Flüchtlingsstrom stoppen, redet über Stacheldraht, und wer über Stacheldraht redet, meint am Ende den Schießbefehl.“

Ein paar Tage lang wurde der Bürgermeister Jürgen Opitz in der Staatskantine schon als neuer Innenminister gehandelt. Dabei ist er doch verheiratet mit Heidenau. Was er vor 25 Jahren dort erlebte, erklärt manche seiner heutigen Reaktionen.

Jürgen Opitz stammt aus Kyritz in Brandenburg. Das liegt ihm noch auf der Zunge. In der Kleinstadt Heidenau, die mal eine Industriestadt war zwischen Dresden und Pirna, kennt er jeden Winkel. Er kennt sogar die Straße, die keinen Namen hat, weil dort keiner wohnt, hundert Meter Niemandsland, das gleichwohl gewidmet sein muss. Das heißt, dass die Straßenbaubehörde dieses Stück anerkennt. Jeder Lufthauch braucht eine Verordnung. Das macht das Regieren zu einer zähen Sache. So erlebt es der Bürgermeister im kleinen Kreis. Doch im großen kann und will er die Langsamkeit nicht tolerieren. Deshalb hat er einen zornigen Brief unterschrieben, der sich an die Regierenden richtet, die ihn im August noch als Helden gefeiert haben.

Das andere läuft immer mit, wenn der Bürgermeister in seinem Büro den Aktenschrank öffnet, den Tresor aufschließt, den Dienststempel rausholt und einen runden Klecks auf das Blatt in der Unterschriftenmappe drückt. Opitz hat eine kluge Sekretärin. Sie legt ihm nicht jeden Brief in die Mappe. Er beantwortet auch nicht jeden. „Hasspost von außerhalb landet oft gleich im Rundordner. Das gehört zur geistigen Hygiene. Aber wenn sich jemand aus Heidenau direkt an mich wendet, befasse ich mich damit, weil ich der Bürgermeister aller Heidenauer bin.“ Die Sonnenuhr am Rathaus zeigt zwei Füllhörner als Zeichen üppiger Ernte. Vor dem Haus werden Leitungen hochwassersicher verlegt. Es wird überhaupt viel gegraben. Beim Neubau am Marktplatz rechnet der Bürgermeister mit einer halben Million Euro allein für die Planungskosten. Senioren sollen dort wohnen, familienfreundlich will die Stadt sein, die Kitapläne sind vorbildlich, und das Fernwärmenetz wächst weiter.

„Volksverräter!“ und „Opitz raus!“ brüllten die Leute, die am Haus des Bürgermeisters vorbeimarschierten. Rund tausend hatten sich Ende August einer Demonstration der NPD angeschlossen. Die NPD sitzt mit einem Vertreter im Stadtrat von Heidenau. „Wer einen Politiker Volksverräter nennt, fordert zur Lynchjustiz auf“, sagt Jürgen Opitz. Er hat die Schwarz-Weiß-Fotos vor Augen, Erhängte an Bäumen mit einem Schild um den Hals.

Ein Bürgermeister vom Nachbarort ruft an und bittet um Hilfe. Sie hätten da einen Baum in der Oberleitung, ob er vielleicht die Feuerwehr vorbeischicken könnte. Zwei Halbsätze übers Wetter, dann legt er auf. Was zu klären ist, klärt Opitz am liebsten gleich und direkt. Er muss nicht alles auf seinen Tisch ziehen. Er wird eher misstrauisch, wenn jemand etwas zur Chefsache erklärt, denn dann geht es bestimmt schief. Dann kann er hübsch sticheln. Er hat einen Nerv für Ironie und liebt geistvolle Streitgespräche. Umso mehr schmerzt es ihn, wenn die Sprache vergiftet wird.

„Wer ungestraft in der Öffentlichkeit sagen darf, dass Asylsuchende vergast oder verbrannt oder ertränkt werden sollten, wird das wieder sagen, wenn es nicht sanktioniert wird“, sagt Jürgen Opitz. „Es müsste einen Aufschrei geben, wenn eine Frau die Bundeskanzlerin als Hure beschimpft.“ Er erzählt von seinen Enkelkindern: Sie testen aus, wie er auf Schimpfwörter reagiert. „Noch haben sie eine Beißhemmung bei dem Wort Scheiße“, sagt er. „Man muss eine klare Grenze ziehen. Wer Hassbegriffe verwendet, versündigt sich.“

Die Sekretärin wirft einen Lächelblick ins Büro. Blumenpapier knistert. Der Bürgermeister nimmt den Strauß und eine Tüte mit Heidenauer Pralinen und fährt in das Viertel, wo ein 95-Jähriger Geburtstag feiert. Er selbst feiert in drei Wochen den Sechzigsten. Hans Laurich sitzt mit seiner Frau Gertraude, Traudel genannt, am Tisch. Die Verwandtschaft kocht Kaffee. Opitz plaudert, als würde er dazugehören. Herr Laurich erzählt, dass er zuletzt als Schweißer gearbeitet hat; deswegen, sagt er und macht die Bewegung zwischen Daumen und Zeigefinger. Opitz nickt. Sie reden über Zusatzmilch für Schweißer, über Strudelrezepte und Arztbesuche, und irgendwann sagt Herr Laurich: „Wer dreieinhalb Jahre Sibirien überstanden hat, übersteht das jetzt auch.“ Das jetzt, das läuft immer mit, ausgesprochen oder nicht.

Bei einer Veranstaltung über Asylpolitik wandte sich Jürgen Opitz an die Beamten im Bund mit dem Vorwurf: Würde ein Bürgermeister so arbeiten wie ihr, wäre in Deutschland keine einzige Straße fertiggeworden. „Mir ist schon klar“, sagt er, „dass die aktuelle Situation nicht mit dem Bau einer Dorfstraße zu vergleichen ist. Aber warum geht es nicht wie damals beim Hochwasser, dass alle Parteien zusammenstehen und ihre Scharmützel lassen? Könnte nicht Herr Özdemir einfach mal nichts sagen?“

In seinem Büro diskutiert der Bürgermeister mit zwei Mitarbeiterinnen, wie die Zusammenarbeit mit dem Christlichen Jugenddorfwerk fortgesetzt wird. Der Verein bringt Arbeit und Arbeitslose zusammen. Heidenau finanziert das Projekt mit. Das tun wenige Orte. Opitz macht sich auf seinem linierten Block Notizen. Die Amtsleiterin erklärt, welche Arbeiten erlaubt sind und welche nicht. Rasenmähen mit der Sense ja, mit Maschine nein. Gequältes Lächeln des Bürgermeisters. Er hört wohl das Räderwerk der Bürokratie knirschen.

Der zornige Brief der 37 Kommunalpolitiker des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge fordert Merkel und Tillich angesichts der Flüchtlingskrise zum sofortigen Handeln auf. Jürgen Opitz sagt, dass er nicht zögerte mit seiner Unterschrift. Den runden Dienststempel hat er danebengesetzt. „Es ist nicht zu akzeptieren“, sagt er, „dass wir es in einem Land mit dem effektivsten Meldegesetz nicht schaffen, Flüchtlinge ordentlich zu registrieren. Ich kann auch nicht akzeptieren, dass wir kaum hinausdenken über das nächste Feldbett und keinen Plan haben, was danach kommt; welche Folgen für den Arbeitsmarkt und den Wohnungsmarkt entstehen. Das beunruhigt die Bürger, und das beunruhigt den Bürgermeister.“

In beiden Punkten weiß Opitz sich eins mit vielen Kritikern der Asylpolitik, ja, auch mit fragwürdigen. „Aber bei mir hört der Spaß auf, wenn Flüchtlinge beschimpft werden und wenn über sie gehetzt wird. Da entscheidet sich, wer Rassist ist und wer nicht. Das ist dann nicht mal diskussionswürdig.“

Die Bibliothek braucht eine neue Satzung, weil elektronische Bücher die Videos ersetzen. Die Konzeption des Jugendbeirats muss diskutiert werden. Auf dem Speiseplan im Büro stehen Wörter wie Hochwasserschadensbeseitigung und Wurzelzwerge. Die Wurzeln gehören zur Kita. Alltag des Bürgermeisters.

„Das jüngste 17-Punkte-Programm aus Brüssel zur Asylpolitik wirkt, als würde man mit Pfannkuchen auf Panzerplatten schießen“, sagt Jürgen Opitz. Der Heidenauer Bürgermeister ist nominiert für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie, der am 9. November vergeben wird.

Entschiedenheit hat Opitz von klein auf trainiert. Seine Haltung war Opposition. Er war nicht Mitglied im Jugendverband der DDR, er durfte nicht auf die Erweiterte Oberschule, und Pfarrer zu werden war mehr als ein Aussteigerwunsch. Nach fünf Semestern Theologie in Erfurt traf ihn die große Liebe, oder er traf sie, für einen katholischen Pfarrer unmöglich. Jürgen Opitz zog mit nach Heidenau und wurde Hilfsarbeiter im Druckmaschinenwerk. Er lernte das Schweißen, er diente als Bausoldat, und noch im Herbst ’89 bekam er die Urkunde als Schlossermeister. Mit Freunden ging er auf die Straße. Sie riefen, sie seien das Volk. Es klang sehr anders, als es heute klingt. Opitz: „Wer mit einer Kerze in der Hand geht, brüllt nicht hassvoll.“

Er erzählt, wie er in Heidenau das Neue Forum mit gründete und den Runden Tisch, wie sein Freund Bürgermeister wurde und er dessen Stellvertreter, wie er in die CDU eintrat und Verwaltungswirtschaft studierte und immer wieder und wieder gewählt wurde, bis er 2012 das Bürgermeisteramt übernahm. Ein Vierteljahrhundert Arbeit für eine freundliche Elbestadt, die nun als Nazi-Stadt Schlagzeilen macht. Das andere läuft immer mit, ausgesprochen oder nicht.