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Dreißig entscheidende Zentimeter

Lolek und Bolek sind die geheimen Stars der Leipziger Buchmesse, die sächsischen Verlagen neuen Aufwind verschafft und fast zum Umsturz aufruft.

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Von Karin Großmann

Würde der Eulenspiegel Verlag die Riesenpapiertüten für zwanzig Cent das Stück verkaufen, wäre er aus dem Schneider. Aber er gibt sie kostenlos ab. Kaum liegt am Verlagsstand ein frischer Stapel, ist er schon wieder weg. Die Leipziger Buchmessegäste sind tütenbedürftig, denn es gibt viel zu sammeln. Bleistifte beim Deutschen Taschenbuch Verlag zum Beispiel, und wer würde nicht ständig mit Bleistift schreiben. Mit dem Aufdruck „ostfaktisch“ verbreiten die Tüten einen sympathischen Protest gegen die Renaissance des Postfaktischen. Die zwei Jungs darauf sind vor allem dem älteren Publikum vertraut. Lolek und Bolek traten in 176 Kurzfilmen auf, in Kinofilmen und im Comic. Der Verlag recycelt das jetzt. Irgendwann reicht das Geld vielleicht, um die wahren Schätze zu heben.

Lolek und Bolek protestieren im Eulenspiegel Verlag gegen das Postfaktische.
Lolek und Bolek protestieren im Eulenspiegel Verlag gegen das Postfaktische. © dpa
Der Norweger Jostein Gaarder lebt immer noch von Sofies Erfolg.
Der Norweger Jostein Gaarder lebt immer noch von Sofies Erfolg. © Stefan Hoyer

Jeder Verleger hat ein Geheimfach in seinem Schreibtisch, wo die Perlen liegen: Bücher, die er immer schon machen wollte, wäre nicht der Kassenwart streng dagegen. Endlich mal die ultimative Biografie über den Architekten Gottfried Semper oder ein ganztägiges Theaterstück von der Rätselhaftigkeit eines „Faust“. Das lässt sich nur finanzieren, wenn der Verleger Omas Wiesenstück erbt. Mancher hat einfach so Glück. Sebastian Guggolz zum Beispiel gewann bei der „ZDF-Quizshow“ den Hauptpreis, eine Viertelmillion Euro. Sein Engagement für eine Literatur, die vergessen ist oder auf Nebenstraßen im Ausland entsteht, wird auf der Leipziger Buchmesse mit dem Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung gewürdigt. In der Stiftung ermuntern kleinere, konzernunabhängige Verlage sich gegenseitig. Wohlwollend hält die Bundeskulturchefin ihre Hand darüber. Beidhändig wäre auch gut.

Wer weder Wiese noch Quiz-Talente besitzt, kann immer noch auf Sponsoren hoffen. Und so stellt der Suhrkamp Verlag auf der Messe den Beginn einer Werkausgabe von Uwe Johnson vor, der anfangs dem Osten nicht sozialistisch genug und dem Westen nicht konservativ genug war und ein Sturkopp obendrein. Ein Sprachberserker. Gestorben 1984. Es ist das erste Mal, dass eine wissenschaftliche Akademie hierzulande einen Autor fördert, der noch nicht als Klassiker hinreichend abgehangen ist. Die Werkausgabe soll 43 Bände umfassen und in 24 Jahren komplett vorliegen. Wenn eine solche Planung nicht von Optimismus zeugt, was dann?

Es ist auf jeden Fall günstig, die Lolek- und Bolek-Tüten parallel zur Laufrichtung zu tragen. Dazwischen diskutieren einige halbwüchsige Jungs die Berechnungen ihres Biolehrers. Er hat erklärt, dass der Abstand zwischen Mensch und Mensch im Normalfall nicht kleiner als 30 Zentimeter sein sollte. Danach beginnt die Intimität. Es ist eine sehr, sehr intime Messe.

Die Perle im Eulenspiegel Verlag heißt Peter Hacks. Die Werkausgabe war gerade noch rechtzeitig vor dem Tod des einst viel gespielten DDR-Dramatikers erschienen. Noch nicht gedruckt sind seine frühen Texte und die Briefe an Mutti. Kindergeschichten von Hacks erscheinen demnächst als Hörbuch. In einem der Texte geht ein Bär auf den Försterball und fällt gar nicht auf.

Auf das richtige Kostüm kommt es an. Die Damen und Herren der Manga- und Comicszene müssen sich einem Requisitencheck unterziehen. Unter bodenlangen barocken Tüllröcken könnten sie einen Kleinpanzer mit sich führen. Macht bloß in der Drehtür Probleme. Zur Ausstattung gehören wahlweise eine Holzkeule mit Stacheldraht, eine drei Meter hohe Sense oder eine Kalaschnikow wie aus dem 3-D-Drucker.

Eine junge Frau lässt sich mit einigen Sicherheitsnadeln einen Frosch auf der linken Schulter befestigen. Sie sagt, dass sie Rapunzel-neu-verföhnt ist und der Frosch aus dem Disney-Shop stammt. Sie stülpt sich eine Perücke über mit einem Zopf, der unter das Waffengesetz fallen müsste. Am Sonntag, sagt sie, geht sie als die Schöne und das Biest. Den biestigen Part übernimmt die beste Freundin, die stets alles dabei hat, Bürsten, Kämme, Haarspray, Schminke, Pinsel und die Dosen mit Haarklemmen. Ein Pokemon braucht das nicht.

Es gibt viel gelben Ganzkörperplüsch. Auch Bernhardiner als Rucksack. Neu sind Flügeltüren auf dem Rücken mit blinkenden Lämpchen. Und: Man trägt jetzt wieder Geweih. Fotografen sind aufgefordert, die Persönlichkeitsrechte der Manga- und Comicfiguren zu wahren, denn es stecken echte Menschen darin. Sie ernähren sich von echtem japanischem Knabbergebäck. Es sieht aus wie … jedenfalls nicht wie biologisch abbaubar. Vor drei Jahren bekamen sie zum ersten Mal eine eigene Messehalle. Das war schön. Weil sie dort blieben.

Schriftsteller wechseln im Stundentakt von einem Leseort zum nächsten. Manchmal treffen sie aufeinander. Martin Suter will den Kollegen kennenlernen, der ihn regelmäßig vom Spitzenplatz der Bestsellerlisten verdrängt. Er findet Jussi Adler-Olsen trotzdem sympathisch. Als Suter in der Leipziger Kongresshalle liest, leuchtet die Bühne so rosarot wie der kleine Elefant in seinem jüngsten Roman. Der Elefant weiß allerdings nicht, dass er klein ist, und trötet so breitspurig herum wie ein großer. Kennt man ja aus der Politik. „Wenn man die Welt beschreibt, wie sie ist, wird ein Buch sofort kritisch“, sagt Martin Suter. An die tausend Leute sind an diesem Abend dabei. Anderswo sind es drei oder vier, und da sind die Praktikanten des Veranstalters schon mitgezählt. Die Menge des Angebots überfordert selbst die willigen Leipziger.

Und auch dafür ist eine Buchmesse gut: Dass man einen berühmten Norweger nuscheln hört. Beim Lesen macht sich jeder ein Bild vom Autor. Ein Jostein Gaarder mit Sprachfehler gehört nicht dazu. Er sagt, dass er Söhne und Töchter hat und Sofie. Sie öffnete ihm die Türen zum internationalen Buchmarkt. Der Philosophieroman „Sofies Welt“ wurde in 64 Sprachen übersetzt. Im jüngsten Roman erforscht sein eigenbrötlerischer Held das Indogermanische. Darüber redet er mit seinem besten Freund, einer Handpuppe. Gaarder: „Unser Gehirn ist für Geschichten gemacht und weniger für digitale Informationen.“

Deshalb kramt der Eulenspiegel Verlag weiter in der DDR-Kiste und holt die Memoiren des singenden FDJ-Funktionärs Hartmut König heraus. Da muss man ganz tapfer sein, wenn es wie in seiner Agitprop-Hymne heißt: „Sag mir, wo du stehst …“

Sonst wird es aber ein toller Herbst mit neuen Romanen von Ingo Schulze und Ingrid Noll und einer Fortsetzung von Andreas Steinhöfels Erfolgsduo Rico und Oskar. Dagegen sehen die beiden polnischen Jungs Lolek und Bolek ziemlich alt aus, und das sind sie ja auch, über fünfzig – so alt wie der Pittiplatsch. Der kleine Maulwurf, Lieblingsfigur aus tschechischen Zeichentrickserien und Kinderbüchern, feiert in Leipzig seinen 60. Geburtstag.

Beim Dresdner Buchverlag geht es noch weiter zurück bis ins Mittelalter mit dem Band „Vom Hängen und Würgen“. Der Verfasser Mario Sempf hat Totenkopf und Daumenschrauben dabei. Er verfertigt am Messestand Seile nach alter Art und Lesezeichen. Der Verlag will sich auf historische Themen und anspruchsvolle Belletristik konzentrieren und firmiert künftig unter dem Namen Salomo publishing. Der Familienname als Marke. „Wie bei Suhrkamp“, sagt Chefin Katharina Salomo grinsend. Ein bisschen ernst meint sie das schon.

Sachsens Verlage schlagen sich wacker. Der Dresdner Sandstein Verlag bekam den Zuschlag für die Luther-Ausstellungen der Bundesrepublik in Amerika und verkaufte allein dort stolze 6 000 Kataloge. Mit zwei Bänden begleitet er die Ausstellungen in Zürich und Berlin, die sich den revolutionären Ereignissen in Russland vor 100 Jahren widmen. Der Verlag Voland & Quist setzt sein erfolgreiches Programm mit neuen Stimmen aus Georgien, Slowenien und Kroatien fort. „Inzwischen kommen angesehene Literaturagenten auf uns zu“, sagt Verleger Sebastian Wolter. Der Messestand wird zum Treffpunkt für Künstler, die das Ungewöhnliche und Besondere suchen. Der Verleger rätselt noch, ob ein geplanter Titel wie „Berghütte, Banküberfall oder das Ende der Welt“ wirklich ein guter Titel ist. Auf jeden Fall passt er als Motto zur Messe. Neben Alpenbüchern und Krimis gibt es aufregende politische Diskussionen.

Die Schauspielerin Katja Riemann bringt gleich ein richtiges Manifest mit und empört sich über den Missbrauch des Wortes „Volk“. Ihr Appell: „Wir müssen das, was wir aus der Geschichte über Intoleranz und Nationalismus gelernt haben, jetzt anwenden.“ Die Journalistin Julia Friedrichs kritisiert die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Machtpositionen zwischen Jung und Alt. Der Grünen-Politiker Ralf Fücks plädiert für eine Stärkung der öffentlichen Einrichtungen von Kultur und Bildung, für ökologische und soziale Umgestaltung. Der Schweizer Medienmacher Roger de Weck spricht von Veränderungen innerhalb bestehender Strukturen, und so bleibt die Revolution vorerst aus. Es genügt, das Volk alle zwei, drei Monate zu befragen. Dann fühlt es sich einbezogen.

Die ältere Frau an der Straßenbahnhaltestelle hat ihre große Lolek- und Bolek-Tüte nicht mit gekaperten Bleistiften, Büchern oder Verlagsprospekten gefüllt. Sie trägt darin fünf weitere Lolek- und Bolek-Tüten nach Hause.