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Die Überflieger vom Berg

Das Elite-Gymnasium Sankt Afra in Meißen ist zehn Jahre nach der Gründung in der Realität angekommen. Da gibt es nicht nur doppelt Futter.

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Von Karin Großmann

Artur und Valentin hocken beim Denker und denken. Rund um die Skulptur liegen die ersten gelben Blätter im Gras. Die Vormittagssonne spielt mit dem Schatten. Einige Jungs nutzen die Pause im Freien. Die Wiesen am Gymnasium heißen naturbelassen und sehen auch so aus. Artur Mittring ist 14 und kommt aus Dresden. Der große Blonde verwendet Wörter wie „wissbegierig“. Es klingt sehr ernst, wenn er etwas erklärt. „Es gefällt mir, mit anderen in einer Klasse zu sitzen, die genauso sind wie ich, also so wissbegierig.“ Valentin Lux nickt zustimmend. „Die nicht nur rumhängen und sich drücken.“ Der Junge mit dem dunklen Haarschopf ist 13 und kommt aus Greiz. Beide lernen in der neunten Klasse am Sächsischen Landesgymnasium Sankt Afra in Meißen.

Rattenlabor. Kaderschmiede. Reichenpenne. Die Schule auf dem Burgberg wird nicht nur mit Kosenamen bedacht. Sie soll „Leistungseliten mit sozialer Verantwortung“ hervorbringen, hieß es zur Eröffnung vor zehn Jahren. „Eliten entscheiden über unsere Zukunft“, behauptete der damalige Ministerpräsident. Die bis dahin im Haus ansässige Schule wurde vor die Tür gesetzt. Das neue Gymnasium war Kurt Biedenkopfs Lieblingskind. Es startete mit hehrem Anspruch und wenig Erfahrung. Inzwischen ist das Gymnasium in der Normalität angekommen, in jeder Hinsicht. Von Elite spricht kaum noch einer. Das Wort hat wohl immer noch einen Beigeschmack. Lieber redet man auf dem Burgberg von Hochbegabung und von interdisziplinärer Begabung. „Wir nehmen Schüler auf mit überdurchschnittlichem Potenzial und dem Drang, etwas daraus zu machen“, sagt Bert Xylander, Mathelehrer und stellvertretender Schulleiter.

Höfliches Grüßen im Gang

Er leitet an diesem Tag das Frühkonzil. Es beginnt 25 Minuten nach sieben. Artur und Valentin frühstücken noch. Ruhig löffeln sie rosa Joghurt aus ihren Schüsseln. Im Gang vor der neuen Mensa lassen die Schüler die Rucksäcke fallen, wie es grad kommt. Die Haufen wirken ziemlich unelitär. Aber es wird höflich gegrüßt. Doch, hier grüßt wirklich jeder Schüler. Lehrer, die das ganztags haben, dürfte es etwas erschöpfen.

Konzil heißt Zusammenkunft. Es nehmen alle dran teil. Pünktlich füllt sich die Aula. Ein Schüler im Streifenpulli gibt einen Überblick über die Nachrichtenlage. „Die FDP erreicht das Niveau einer Tierschutzpartei.“ Die Jungs vom Internatshaus eins bestreiten den Kulturteil in dieser Woche. Sie lassen eine Spielzeugeisenbahn rollen. Eine Kamera folgt der Fahrt. Auch Artur und Valentin klatschen Beifall. Kindsein war schon schön.

In dem Saal hängt die Aura von Kurfürst Moritz, der 1543 in Meißen die Schule für begabte Landeskinder erfand, egal, ob sie adlig waren oder nicht. „Es gehört zu den Grundfesten des Hauses, dass niemand hier ist wegen Herkunft, Geldbeutel, Nase oder Elternhaus“, sagt Schulleiter Xylander am Mikrofon in der Aula. Er sagt das auch für Zeitungen, die das anders sehen und im Sommer Debatten auslösten zwischen unzufriedenen Ex-Mentoren, besorgten Eltern und glücklichen Altafranern. Das Ergebnis ist auch eine Spendenbox. Sie soll Plakate zur Selbstdarstellung finanzieren: Zehnmal zehn Gründe, warum wir Afra toll finden. Biedenkopf eröffnet am Montag die Festwoche zum Zehnjährigen. Kritische Stimmen passen gerade gar nicht. Debatten um Drogen, Alkohol und Handyverbot noch weniger. „Wir sind nicht blauäugig“, sagt Schulleiter Bert Xylander. „Wenn man realistisch ist, kann man nichts ausschließen. Und auch Mobbing gehört zum Menschen. Wir haben es mit Gruppen zu tun, die sich gegenseitig beeinflussen.“

Anstrengende Sechs-Tage-Arbeitswoche

Die Leitung setzt auf Selbsterziehen, Vorbildwirkung, Präventionsworkshops. Nicht immer ist sie erfolgreich. Von 50 Schülern, die jährlich starten, erreichen 35 das Ziel. Für manchen ist auch die Sechs-Tage-Arbeitswoche zu anstrengend, das Heimweh zu groß oder die Sorge der Mutter zu herzergreifend. Es kommen jetzt noch zwei Bewerber auf einen Platz. Spezialgymnasien machen Afra Konkurrenz. Für Werbung fehlt Geld. Es fehlt für eine bessere Bezahlung der Lehrer, die im Internat arbeiten und wohnen und bitte Tag und Nacht ansprechbar sein sollten.

Mittelschichtskinder. So nennt die Lehrerin Maria Degkwitz die Klientel des Hauses. In Sankt Afra lernen rund 300Schüler zwischen siebenter und zwölfter Klasse. Die meisten kommen aus Sachsen. Alle wohnen im Internat. Sie zahlen für Kost und Logis 225Euro, auswärtige 390 Euro. Im Vergleich mit altbundesdeutschen Privatschulen ist das ein Klacks. Gut, Kosten für Laptop und andere Utensilien kommen hinzu. Stiftungen helfen mit Zuschüssen. Seit 2003 erhielten achtzig Schüler ein Stipendium. Artur und Valentin werden von den Eltern gesponsert. Arturs Vater arbeitet im Innenministerium, die Mutter bei der Denkmalpflege in Potsdam. „Ich war abends oft allein zu Hause. Zur Schule musste ich eine Dreiviertelstunde mit der Bahn fahren, das war schon anstrengend“, sagt der große Blonde. „Wir haben eine Alternative gesucht. Afra versprach eine Gemeinschaft, wie ich sie mir vorgestellt habe.“ Valentins Mutter ist Stadtplanerin, der Stiefvater Architekt. „In meiner alten Schule hatte die Lehrerin gewechselt, das fand ich nicht gut“, sagt er. „Auch die Atmosphäre an der Schule fand ich nicht gut. Hier gefällt mir das generalistische Konzept – dass alles unterrichtet wird.“

Der Schultag der Jungen beginnt mit Mathe. Die Klingel müsste längst läuten. Da läutet nichts. Werner Esser, der Gründungsdirektor, schwor auf Verantwortungsbewusstsein. Artur und Valentin stapeln Hefter, Lehrbuch und Federmappe akkurat aufeinander. Die Tische stehen in U-Form. An der Wandseite sitzen die Mädchen, am Fenster die Jungen. Eine Schülerin liest im „Spiegel“. Ihr Nachbar studiert die Gebrauchsanweisung eines Rechners. Ein anderer erzählt leise vom Wettkampf am Wochenende. Falls wer einen Film drehen will über vorbildliches Verhalten vorm Unterricht: hierher! Es rempelt keiner, es kippelt keiner, es brüllt keiner. „Hochbegabte sind sensibler im Umgang miteinander“, sagt Bert Xylander. Er lässt den Stoff der letzten Mathestunde wiederholen. Es ist angenehm, wenn man zusehen kann, wie sich andere mit Potenzrechnung quälen. Drei x hoch sieben, geteilt durch sechs x hoch zwei. Eine Erinnerung kommt und geht gleich wieder. Bei der nächsten Aufgabe müssen auch Dunja und Luisa passen. Valentin erklärt an der Tafel, wie lange man braucht, um mit einem Auto ein Lichtjahr weit zu fahren, wie oft man tanken müsste und ob ein Leben ausreicht dazu. Ja – wenn man nichts anderes tut und als Säugling beginnt. Der Lehrer gibt Aufgaben mit für den Nachmittag. „Es muss nicht jeder alle rechnen“, sagt er. „Ihr müsst es können.“ Dem Klassensprecher gibt er die Lösungen.

„In meiner alten Schule gab es auch Mathe-AG und Mathe-Olympiade“, sagt Valentin beim zweiten Frühstück, „aber hier ist das alles viel besser aufeinander abgestimmt. Die individuelle Förderung hat mir gefehlt.“ Sankt Afra spannt ein Netz von Zusatzangeboten, Vertiefungen und Projekten. Mitunter wartet ein Lehrer nachmittags allein im Expertenraum – nur für den Fall, dass er gebraucht wird.

Mehr begleiten als unterrichten, so nennt es Ludwig Schrameyer. Der Musiker lässt die Schüler prusten und schnauben, das lockert. Sie singen „Boat on the River“, er spielt Klavier. Schrameyer hat es nicht leicht. Die Jungs aus der Neunten wechseln die Stimme. Selbst wenn der eine oder andere danebenrutscht: „Hochbegabte sind unglaublich präzise im Rhythmus, sie lernen schnell auswendig.“ Wie andere Lehrer hat Schrameyer 90Minuten Zeit. „Die Doppelstunde ist viel effektiver als 45 Minuten“, sagt Valentin. „Da kam immer gerade dann die Pause, wenn es interessant wurde.“ Wenn er vergleicht, spricht er von der normalen Schule. Regelschule, sagen die Lehrer. Bloß keine Diskriminierung. „Der Rahmen hier ist einfach anders“, sagt Artur. „Es gibt mehr Respekt und Vertrauen statt Kontrolle.“

Und es gibt Unterricht in Poesie. Iain McKay inspiriert in der Englischstunde zum Dichten. Er erklärt ein Beispiel. Zehn Minuten zum Selberreimen. Die Mädchen gucken interessiert, die Jungen weniger. „Es ist nicht erlaubt, keine Idee zu haben“, sagt McKay. Er arbeitete an Privatschulen in der Schweiz und in Schottland. „Ich kann hier im Unterricht was riskieren“, sagt er. „Das ist eine Herausforderung für Lehrer.“ Der Durchschnitt, sagt er, ist vielleicht nicht sehr viel höher als anderswo. „Aber hier haben wir die Überflieger!“

Kohlroulade und Spanisch-Kurs

Sie wechseln in die Mensa zu Kartoffeln und Kohlroulade. Artur holt die Schüsseln für die Gruppe. Am Nachmittag hat er Unterricht in Spanisch, Valentin übt Trompete. Abends gehen beide in den Ruderclub an die Elbe. Dazwischen liegt eine Pause im Internat. Zwei Schüler teilen sich ein Zimmer. Es ist wie überall: Zwischen Stuhl und Schrank, Schuhen und Krimskrams führt ein Trampelpfad zum Bett.

„Stell dir vor, du bist Etagenverantwortlicher“, sagt die Lehrerin Maria Degkwitz abends bei der Theaterprobe in der Aula zu dem Jungen, der den Räuberhauptmann Karl Moor spielt. „Du musst deine Leute aufrütteln! In einer Stunde muss die Küche sauber sein!“ Der Jungschauspieler rüttelt die Bande nicht eben sanft durch.

Es ist nach zehn, als im Internat das Licht ausgeht. „Schlaf ist das, was ich außer der Familie am meisten vermisse“, sagt Artur. „Es wird hier so viel angeboten, was einen interessiert.“ Doppelt Futter für die Pferde hieß es bei Afra-Schüler Gotthold Ephraim Lessing. Das wird im Haus gern zitiert.