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Die Patriarchin

Ingeborg Eule gehörte zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Bautzener Wirtschaftslebens. Nun ist die Seniorchefin der Orgelbaufirma Eule gestorben.

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© Archivfoto: Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Bautzen. Loslassen fiel Ingeborg Eule schwer. Stattdessen kam sie auch über 80-jährig noch fast täglich in die Werkstatt der Bautzener Orgelbaufirma „Hermann Eule“. Die Mitarbeiter sagten mit Respekt „Seniorchefin“ und achteten sie für ihre „unverrückbare Treue“ zum Beruf des Orgelbauers. Die neue Generation – Enkeltochter Anne-Christin Eule und ihr Mann Dirk – fanden bei ihr Rat und eine große Portion Liebe. An erster Stelle standen für die Bautzenerin immer der traditionsreiche Handwerksbetrieb und die Familie. Am 23. August verstarb die Patriarchin mit 92 Jahren.

Ihr Weg als Chefin eines der erfolgreichsten, deutschen Orgelbauer-Unternehmen war jedoch keineswegs vorgezeichnet. Ingeborg Eule wird 1925 in Trebsen bei Grimma geboren. Ihr Vater ist Kantor im benachbarten Wurzen und enger Freund der Familie Eule in Bautzen. Johanna Eule (1877 bis 1970), die Tochter des Firmengründers Hermann Eule, wird ihre Patentante. Doch bevor es von der Mulde an die Spree geht, beginnt die Abiturientin 1944 in Chemnitz ein Elektrotechnik-Studium. Das Kriegsende stoppt diesen Berufsweg. Stattdessen absolviert sie, auch weil das Geld knapp ist, einen Kurzlehrgang für Französisch und Englisch.

Johanna Eule hat zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon andere Vorstellungen für das junge Mädchen. 1949 bietet sie ihrem Patenkind an, nach Bautzen zu kommen. Die Unternehmerin ist kinderlos geblieben, sie braucht einen Nachfolger für die Orgelbauwerkstatt. Die Ausgewählte kommt nicht allein. Bereits in der Schulzeit hat Ingeborg Schirmer–- so der Mädchenname – ihren späteren Mann Hans Hennig kennengelernt. Er bringt nicht nur technischen Sachverstand und eine Ausbildung zum Juristen mit. Auch die Meisterprüfung zum Orgelbauer besteht er mit Bravour. Aus wirtschaftlichen Erwägungen und um den Familiennamen zu erhalten, adoptiert Johanna Eule die Eheleute.

Johanna Eule, die die Werkstatt in schwierigen Zeiten des Nationalsozialismus am Leben erhalten hat, wird für Ingebor Eule zum großen Vorbild. Nach dem frühen Tod ihres Manns 1971 übernimmt die Mutter von zwei Töchtern die Leitung des Familienbetriebs. Doch auf sie warten gleich doppelt schwere Zeiten: 1972 folgt die Zwangsverstaatlichung. In einem Interview mit der Sächsischen Zeitung sagte sie über diese Zeit: „Aus Sorge um die Mitarbeiter und unseren guten internationalen Ruf führte ich den Betrieb so weiter, als wäre er noch ein Familienunternehmen.“

Eine Insel im roten Meer

Weitsichtig und vorausschauend leitet die disziplinierte und bescheidene Bautzenerin den volkseigenen Betrieb. Mit Scharfsinn, resolutem Auftreten und großem Verhandlungsgeschick mit Kunden und Geschäftspartnern holt sie Orgelbauaufträge aus der ganzen Welt in die kleine ostdeutsche Stadt. Ihr Haus ist in der „Enge des DDR-Systems eine Insel im roten Meer“. Ihre Mitarbeiter bauen Orgeln für die Bautzener Maria-und-Martha-Kirche ebenso wie für die Philharmonie in Tscheljabinsk am Ural und den Französischen Dom in Berlin.

Ein Jahr vor der politischen Wende verabschiedet sie sich als VEB-Direktorin von ihrer Belegschaft in die Rente. Ein knappes Jahr später kehrt Ingeborg Eule zurück. Sie sah wieder eine Zukunft für das Unternehmen. Nach dessen Reprivatisierung im Sommer 1990 wird die Direktorin „Jungunternehmerin“ – mit 65 Jahren. Sie investiert über vier Millionen Euro in neue Maschinen. In den ersten schweren Jahren der neuen Marktwirtschaft hält sie den Familienbetrieb und vor allem ihre Mitarbeiter mit dem Bau von Hausorgeln über Wasser. Zielstrebig kämpft sie um jeden Auftrag, wirbt mit Orgeltradition und mit der hervorragenden Expertise ihrer Belegschaft.

Muße findet sie im wunderbaren Garten mit den duftenden Rosen, bei ihrer Familie und bei guter Musik. Unter der Leitung von Ingeborg Eule entstehen zwischen 1971 und 2005 weltweit 231 neue Orgeln. 43 historische Instrumente werden in der Orgelwerkstatt restauriert. Ihr größter Auftrag ist die Orgel für die Nikolaikirche zu Leipzig – mit 103 Registern und 6 848 Pfeifen. Auch ehrenamtlich macht sich die Unternehmerin für ihre Heimatstadt stark, unter anderem als Mitglied im Ortskuratorium der Stiftung Denkmalschutz und in der Stiftung Taucherkirche“.

Ihr Lebenswerk würdigt 2006 der damalige Ministerpräsident Georg Milbradt mit dem Sächsischen Verdienstorden, auch weil die rastlose Unternehmerin zu DDR-Zeiten Teile der Orgel aus der Leipziger Universitätskirche St. Pauli gerettet hat. Das Gotteshaus stand dem Neubau des sozialistischen Universitätscampus im Weg und wurde 1968 gesprengt.

Vor einer Woche, am 23. August, wurde nach zwölfjähriger Bauzeit das wiederaufgebaute Paulinum anlässlich der Bauabnahme für die ersten Besucher geöffnet. Am gleichen Tag schloss Ingeborg Eule für immer die Augen. Es war Zeit loszulassen.

Der Trauergottesdienst findet am 4. September um 13 Uhr in der Taucherkirche Bautzen statt.