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Die Lady vom Eisernen

Es war ein hartes Stück Arbeit. Nun aber feiert Ines Koch den Tag der Sachsen in Löbau auf besondere Weise.

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© Matthias Weber

Das Häuschen lag lange im Dornröschenschlaf, sagen die Einheimischen. Doch eine Königstochter hätte hier kein Auge zugetan. Das Dach drohte einzustürzen, die Zwischendecke fiel fast herab, die Fenster waren vermauert. Ein Buntspecht morste sein SOS an die Linde davor. Wer ein solches Objekt erwirbt, sollte den Zugriff auf die königliche Schatulle haben oder ein wenig verrückt sein. Für Ines Koch gilt weder das eine noch das andere. Aber sie hatte eine Idee, als sie vor mehr als zehn Jahren Haus und Grundstück von der Stadt kaufte. Drei Anläufe brauchte sie allein bis zur Umbaugenehmigung. Wenn nun Löbau an diesem Wochenende zum Tag der Sachsen einlädt, öffnet auch das Berghäusel wieder.

Bis ins Riesengebirge und in die Sächsische Schweiz reicht an guten Tagen die Sicht vom obersten Balkon des König-Friedrich-August-Turms auf dem Löbauer Berg. Und unten am Hang liegt die Stadt.
Bis ins Riesengebirge und in die Sächsische Schweiz reicht an guten Tagen die Sicht vom obersten Balkon des König-Friedrich-August-Turms auf dem Löbauer Berg. Und unten am Hang liegt die Stadt. © Matthias Weber
Kein anderer Ort in Europa hat einen solchen Turm, der aus 70 Tonnen Gusseisen zusammengepuzzelt wurde.
Kein anderer Ort in Europa hat einen solchen Turm, der aus 70 Tonnen Gusseisen zusammengepuzzelt wurde. © Matthias Weber

Dabei wird es festlich zugehen, wenn vielleicht auch nicht so wie 1738. Damals hatte die Löbauer Kaufmannschaft extra eine Kantate dichten und komponieren lassen zur Einweihung der ersten Holzhütte auf dem Berg. So weit reicht die Tradition zurück – eine Rarität in der sächsischen Gebirgslandschaft und so besonders wie die Aussicht. Noch prächtiger ist sie nur vom Turm aus, wo eine gusseiserne Rosette den passenden Rahmen gibt. Schwindelfrei sollte man freilich sein, wenn der Wind durch die Wendeltreppe pfeift. Der Turm mit dem sächsischen Wappen ist eine löchrige Sache.

Mensch, ist das schön hier. Das, sagt Ines Koch, war ihr erster Gedanke, als sie in der Nachwendezeit wieder mal auf den Berg kam. Wie jedes Kind in der Gegend war sie beim Schulwandertag hinaufgejagt worden. Der Steile Weg heißt nicht nur so. Er meint das ernst. Über Stock, Stein und einige lässige Stufen führt er beinahe im rechten Winkel bergan. Zu beiden Seiten der Holperpiste raschelt die Mondviole mit ihren Silberblättern. Die morsche Holzbank am Rand weckt mehr Misstrauen als Rastlust. Es gibt andere Wege, die einfacher sind. Denkmalgeschützte Granitstufen führen an grasgrünen Hubbeln vorbei. Wie hingestreut lagern die moosbewachsenen runden Steinbrocken am Hang, genannt das Große Steinerne Meer. Berg und Meer zugleich, wer hat das schon? Und dann noch dieses Wahrzeichen und Wanderziel, das Wunder der Technik: der gusseiserne Turm. Europaweit der einzige seiner Art. An diesem Sonnabend fahren Shuttle-Busse hinauf. Alle Wege führen nach oben.

Ines Koch hat die Attraktionen direkt vor der Tür, wenn sie in weißer Bluse und schwarzem Rock von Holztisch zu Holztisch läuft. Sie bedient mit, sie bäckt mit, sie kümmert sich um den Schriftkram, und notfalls kann sie auch kochen. Lange vor dem ruinösen Berghäusel nebenan hat sie den Gasthof am Turm wiederbelebt. „Darüber bin ich alt geworden“, sagt die 58-Jährige. „Einige Falten sind dazugekommen, zwei Ehen darüber kaputtgegangen. Es war alles nicht leicht.“ Dem Blond ihrer Locken hilft sie inzwischen etwas nach. Manchmal, sagt sie, fährt sie nur zum Schlafen nach Hause. Der Gasthof hat keinen Schließtag. „Es wäre doch schade, wenn Besucher enttäuscht umkehren müssten.“

Anders als mit Enthusiasmus und viel Kraft geht es wohl nicht. Ines Koch hat nichts dagegen, wenn man sie eine eiserne Lady nennt. Ihre Biografie steht dafür, und es passt zum Ort. Aber nicht nur die Energie hat sie gemeinsam mit jenem Bäckermeister, der den Turm bauen ließ. Auch er hatte auf eigene Kosten losgelegt und sich erst mal gründlich verschuldet, nachdem die städtischen Bedenkenträger lange bloß herumgeredet hatten. Auch er hatte Rückschläge zu verkraften. Friedrich August Bretschneider, geboren 1805 in Delitzsch, verheiratet mit der Löbauer Bäckerstochter Erdmute.

Das Bretschneiderhaus steht zwischen Handygeschäft und Hörgeräteladen so fein restauriert wie viele andere Gebäude. Löbau überrascht mit Details. Vollbusige Damen tragen lächelnd schwere Balkone. Jugendstilschnörkel schmücken die Haustüren. Ein Götterbote schwebt hoch oben und glänzt in der Sonne wie Gold. Kein Wunder: Die Stadt war reich. Leinwand und Garne gingen in alle Welt. Der Handel florierte. Das erklärt die Bilder von Anker und Schiff am Stadthaus.

Eine Ausstellung, die das Museum zum Tag der Sachsen eröffnet, erzählt noch mehr vom Reichtum, vom Sechsstädtebund und von jenem Bierkrieg, bei dem wackere Männer um Lieferrechte und Privilegien kämpften. Denn das Bierbrauen, behauptete ein Chronist, sei „die größte und führnehmste Nahrung der Städte in der Oberlausitz“.

Das stimmt für Löbau bis heute, und nicht zufällig werben die Sonnenschirme vor dem Gasthof von Ines Koch für regionales Bergquell-Bier. Sie trägt Wildschweinbraten hin und leere Teller zurück. Textilverkäuferin war ihr Lehrberuf. Nach der Geburt der Tochter arbeitete sie zu Hause als Schneiderin und nach dem Wendeherbst ’89 gar nicht mehr. Ihre Biografie bekam einen Knick, wie es in dieser Zeit viele erlebten. Und sie sagte sich: Wenn schon ein neuer Anfang, dann richtig, also in der Selbstständigkeit.

Ines Koch erzählt, wie sie mit ihrem Mann im Westen einen gebrauchten Imbisswagen erwarb. In Löbau vor dem Bahnhof verkauften sie Wurst und Bier. Im Sommer war es im Wagen zu heiß und im Winter hundekalt. Zwei Jahre später pachtete sie eine Gaststätte, und dann kam jener Tag, als sie nach langer Zeit wieder mal hinaufstieg zum Turm. Die Kneipe auf dem Berg sei zu haben, hieß es, gleich nächste Woche könne es losgehen. „Da wurde mir bissel Angst“, sagt Ines Koch.

Sie erinnert sich noch: In der Küche stand nur ein Kohleherd. Der Gastraum hatte seine beste Zeit hinter sich. Anfangs kochte sie unten und fuhr das Essen in Töpfen hinauf. „Selbst im Winter gab es ein, zwei Gerichte, und die Leute standen Schlange“, sagt Ines Koch. „Das Improvisieren haben wir in der DDR ja gelernt. Es hat auch Spaß gemacht.“

Heute bleibt selbst an Wochentagen zwischen Mittag und Kaffeetrinken kaum eine Pause. Ines Koch trägt Schaumkronen zu den Tischen. Die Bergquell-Brauerei fährt an diesem Sonntag sechsspännig im Festumzug mit einem Traditionswagen mit, dem „Porter-Titan“. Donnerstags bringt eine Pferdekutsche Fassbier zu den Kunden in Löbau. Das Museum hat jedem Handwerk eine hübsche Koje eingerichtet, den Brauern genauso wie den Bäckern. Die Dielen knarzen bei jedem Schritt. Schon 1364 soll es in Löbau 14 Bäckermeister gegeben haben. Friedrich August Bretschneider kam in gute Gesellschaft.

Mit einer Art Leiter soll Bretschneider über den Berg geklettert sein, um den Standort mit der besten Aussicht herauszufinden. Er baute ein Holzmodell, doch für den Turm wollte er weder Holz noch Stein. Das Eisenhüttenwerk im Oberlausitzer Bernsdorf lieferte Gusseisen – rund tausend Einzelteile. Sie wurden zusammengesteckt. Es muss eine lausige Puzzelei gewesen sein. Die Anregung soll sich der Hüttenchef bei der Weltausstellung vom Londoner Kristallpalast geholt haben. Man kann es Größenwahn nennen oder Pioniergeist. Die geplanten Kosten verfünffachten sich auf 25 000 Taler, aber das verwundert einen heute nicht weiter. Im Bretschneiderhaus am Löbauer Markt ist davon zu lesen – wie schön, wenn jeder Flur von einstigen Hausbewohnern erzählen würde. Das Museum bewahrt Bretschneiders Porträt als Kopie.

Neben dem Turm entstand gleich der Gasthof; für die Einweihungsfeier im Juli 1854 war alles geplant. Der Namensvetter hatte huldvoll zugestimmt: Der 28 Meter hohe Gusseiserne sollte nach König Friedrich August benannt sein, der schon im Prinzenalter den Berg bestiegen hatte. Bretschneider erhoffte sich wohl einen Bauzuschuss. Doch weil der Monarch bei einem Kutschenunfall in Tirol tödlich verunglückt war, verschob sich das Ganze, bis der neue König Johann einen freien Termin im Kalender fand. Deshalb leuchtet sein Porträt über dem des Vaters vom Turm. Seit der jüngsten Renovierung werden die Stützrohre durch Stahl verstärkt. Und weil immer mal was zu renovieren ist, übergab die Löbauer Bäckerei Schwerdtner kürzlich zum 80. Firmengeburtstag einen ansehnlichen Scheck für den Turm. „Je weiter der Blick, desto freier das Herz“, so das Lebensmotto von Bäckermeister Bretschneider.

Ines Koch kann da nur zustimmen. Wer ihr neues Berghäusel künftig nutzt, hat den Blick vom Balkon exklusiv. Das Häusel ist eingerichtet für Feiern. Nun können auch drei Dutzend Gäste auf dem Berg übernachten. „In meiner Familie haben alle immer tüchtig gearbeitet, ich kenn’ das gar nicht anders“, sagt Ines Koch. Den Zaun ums Häusel baute ihr Bruder. Er führt die kleine Metallfirma der Eltern weiter.

Es war ein hartes Stück Arbeit, bis alle Leitungen gelegt waren, Strom, Wasser, Abwasser, denn auch Denkmal- und Naturschützer redeten mit. Und wieder kein König, der seine Schatulle geöffnet hätte. Ines Koch hofft, dass sie schuldenfrei in die Rente gehen kann. Irgendwann wird sie mit ihrem Lebensgefährten auch einen längeren Urlaub machen. Am liebsten, sagt sie, steigt sie dann auf einen Berg. Das ist ja mal eine Abwechslung.