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Die Flüchtende

Die 18-jährige Catalina ist zweimal aus der Familie geflohen. Jetzt hat sie ihr Abi gemacht und will ankommen im eigenen Leben. Lichtblick hilft mit ersten Möbeln.

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© Ronald Bonß

Von Olaf Kittel

Ihre Eltern sind gute Menschen. Auf diese Feststellung legt Catalina Renc großen Wert. Auch darauf, dass sie eine behütete Kindheit hatte. Ungewöhnlich höchstens, dass sie in Tschechien geboren wurde. Der Papa kommt von dort, den Vornamen suchte Mama aus, eine Rumänin. Sie wuchs in Limburg auf, ihr und ihren beiden Geschwistern fehlte es an nichts. Und trotzdem ist sie zweimal aus ihrer Familie weggelaufen. Es war jedes Mal ein Drama.

Den ersten Bruch erlebt sie mit elf Jahren. Die Eltern trennen sich. Sie zieht mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Stuttgart. Catalina muss mit. Sie, das Papa-Kind. Die ersten Konflikte gibt es, als die Mutter einen neuen Lebensgefährten mitbringt und er versucht, die Vaterrolle anzunehmen. Ihre jüngeren Geschwister kommen damit ganz gut klar. „Er ist ja eigentlich auch ein netter Mensch.“ Aber sie sträubt sich mit Haut und Haar gegen alles, was er tut, was er will. Und dann beschimpft er auch noch ihren Papa. Und dann wird er depressiv. Es folgen immer neue Reibereien. Geschlagen wurde sie nie, das betont sie. Aber sie leidet unter verbaler Gewalt.

Ihr Körper reagiert auf den Stress. Es geht ihr schlecht, sie ist jetzt immer müde. Manchmal schläft sie den ganzen Tag. Sie zieht sich aus der Familie zurück, die Freunde bleiben weg. Die Schule leidet. Irgendwann will sie nur noch raus. Papa ist jetzt ihre ganze Hoffnung. Nur: Ihre Mutter und die Geschwister wollen „die Große“ nicht gern ziehen lassen. Außerdem lebt ihr Vater inzwischen mit neuer Frau und kleinem Kind in der Dresdner Region. Aber sie beharrt darauf, zu Papa zu ziehen. Ihre erste Flucht.

Ein halbes Jahr geht es ganz gut. Sie will sich unbedingt in die neue Familie integrieren, sie kümmert sich viel um die kleine Halbschwester. Aber dann geht es wieder los. Sie fühlt sich schlecht, schläft unentwegt und weint sinnlos, wie sie sagt. Die Ärzte diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie hat Selbstmordgedanken. Ihr Vater kommt mit der schwierigen Tochter nicht klar, er glaubt, sie bildet sich das alles ein. Sie ist jetzt 16, 17. Am schwersten trifft sie, dass er sie der Lüge bezichtigt. Er sieht sich dann auch noch bestätigt, als die Polizei bei einer Kontrolle Rauschgiftkrümel in ihrer Tasche findet und sie die Aussage verweigert, woher sie die hat. Sie will einen Freund decken.

Danach wird alles nur noch schlimmer. Sie fühlt sich unverstanden und zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück. Catalina fragt ihre Therapeutin: Spinne ich? Nein, antwortet sie. Du bist krank.

Sie will raus aus diesem Zustand. Sie denkt zum zweiten Mal an Flucht. Weil sie noch nicht volljährig ist, muss sie bei der Stadt offiziell um Zuflucht bitten. Die wird gewährt, sofern sich ein freier Platz findet und beide Eltern zustimmen. Die Mutter versteht ihre Tochter und sagt Ja. Der Vater lehnt nach stundenlangen harten Debatten ab. Catalina geht trotzdem und wird nach mehreren vergeblichen Versuchen in der Dresdner Mädchenzuflucht aufgenommen. Ihr Vater klagt dagegen.

Sie versucht jetzt rauszufinden, was gut für sie ist. Der Schulabschluss auf dem Gymnasium soll gelingen, klar. Und sie will ihr eigenes Zimmer, keine WG, wie es bei der Mädchenzuflucht üblich ist. Sie trifft auf „Outlaw“, eine gemeinnützige GmbH, die Kindern und Jugendlichen helfen will, auch in schwierigen Lebenslagen ihren eigenen Weg zu finden. Gemeinsam mit Catalina entscheiden sie sich für das Programm „Betreutes Einzelwohnen“. Sozialbetreuer stehen ihr jederzeit mit Rat und Tat zur Seite, sie kann aber bereits ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Es tut ihr gut. Der Vater zieht seine Klage zurück, sie kommen jetzt langsam wieder miteinander klar. Sie besteht ihr Abitur mit der Note 2,3. „Hätte besser sein können“, meint sie heute. Das kann man auch andersherum sehen.

Vor wenigen Wochen, nach ihrem 18. Geburtstag, endete für sie das Programm. Sie braucht nun eine eigene Wohnung und zieht bei einer Freundin in der Dresdner Neustadt ein, mittenrein ins Getriebe. Dort hat sie ihr eigenes Zimmer. Selbstgezeichnete Bilder hängen an der Wand, sie hat Talent. Ein Cello steht im Raum, sie spielt allerdings jetzt öfter Geige.

Für die ersten Möbel hat noch Outlaw die Stiftung Lichtblick um Hilfe gebeten. Sehr rasch und unbürokratisch wurden aus dem diesjährigen Spendenaufkommen 500 Euro zur Verfügung gestellt. Catalina kauft davon einen Schrank, eine gebrauchte Waschmaschine und ein Bett. Genauer gesagt: Bettaufleger und Matratze. Für das Bettgestell hat das beantragte Geld dann doch nicht mehr gereicht. Macht aber gar nichts, sagt sie fröhlich und lässt sich im Schneidersitz darauf nieder. Es dient eben auch als Sofa. Sie bedankt sich herzlich bei den Lichtblick-Spendern. So richtig hatte sie nicht daran geglaubt, dass ihr, der gerade 18-Jährigen, auf diese Weise geholfen wird.

Und wie geht`s nun weiter? Zunächst will sie ihren Bufdi-Einsatz im Sommer beenden, den Bundesfreiwilligendienst, den sie im Krankenhaus leistet. Sie wollte nach dem Abi erst einmal zur Ruhe kommen und sich darüber klarwerden, welche Richtung sie einschlagen soll. Im Krankenhaus ist sie gerade sehr gern, aber ein Studium in dieser Richtung kommt für sie nicht mehr infrage. Auch deshalb hat sich ihr Einsatz, meint sie heute, schon mal gelohnt.

Vielleicht geht sie im Sommer für ein Jahr ins Ausland. Sie hat da einen Kontakt nach China, wo sie als Au-pair arbeiten könnte. Dann vielleicht noch nach Neuseeland. Steht da die nächste Flucht bevor? „Ja, ich bin eine Flüchtende“, meint sie. Obwohl sie doch die Erfahrung gemacht hat, dass jede Flucht nur vorübergehend eine Verbesserung bringt und sie ihre Probleme doch immer wieder mitnimmt. Sie ist klar strukturiert, sie weiß das genau.

Die Zeit im Ausland könnte aber nicht nur neue Erfahrungen bringen, sondern ihr auch helfen, Klarheit zu verschaffen, wo es für sie mal hingehen soll. Sie, die die deutsche und die tschechische Staatsbürgerschaft besitzt, kann mit Heimatgefühlen nicht viel anfangen. Dazu hat sie in ihrem Leben zu oft den Ort gewechselt. Dresden gefällt ihr gut, die bunte Neustadt sowieso. Muss aber auch nicht sein. Mal sehen, was kommt.

Wichtiger ist erst einmal, die Studienrichtung zu bestimmen. Sie ist sich noch nicht sicher, aber eine Ahnung hat sie inzwischen. Es könnte Neuropsychologie werden.

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