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Die Dienstagmorgen-Show

Bei einer Schießerei auf der Leipziger Eisenbahnstraße stirbt ein Tribuns-Rocker. Der Prozess darüber gerät zu einer ganz eigenen Vorstellung.

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© dpa/Sebastian Willnow

Von Sven Heitkamp

Holger W. war mittendrin, als die Kugeln auf der Leipziger Eisenbahnstraße flogen. Was aber genau passierte, als drei Menschen in den Bauch geschossen wurde, das kann der Zeuge dem Landgericht auch nicht erzählen. Denn da humpelte er schon hinter den Imbiss, wo er eben noch sein Bier getrunken hatte. „Jetzt geht’s gleich los“, hatte eine Frau noch gerufen.

Wenige Augenblicke später trafen vor dem Bistro die Leipziger Hells Angels auf die verfeindeten United Tribuns. Drei „Tribuns“ wurden schwer verletzt, einer von ihnen starb wenig später im Krankenhaus – obwohl schon Polizisten am Tatort waren, um eine Eskalation zu verhindern. „Wer geschossen hat, hab ich auch nicht gesehen“, sagt Holger W., der ein Stammgast in dem Imbiss ist. „Das war’s.“

Es war Samstagnachmittag, der 25. Juni 2016, die Sonne schien über dem Leipziger Osten. Mehr als ein Dutzend Hells Angels waren plötzlich auf der Eisenbahnstraße aufgetaucht. Sie setzten sich auf den Freisitz, wo eben noch Holger W. hockte. Dabei wurden sie von den Tribuns beobachtet, die bald schnurstracks auf sie zumarschierten. Vor dem Imbiss gab es Tritte, dann fielen Schüsse. Sieben Mal knallte es. Veysel A., Türke und Tribuns-Anwärter, starb wenig später auf der Intensivstation einer Leipziger Klinik. Er wurde nur 27 Jahre alt. Zwei weitere Männer wurden mit Bauchschüssen lebensgefährlich verletzt. „Ohne den Notarzt wären beide Opfer gestorben“, sagte Oberstaatsanwalt Guido Lunkeit in seiner Anklage. Erst ein Großaufgebot der Polizei konnte das Duell der Rivalen schließlich beenden.

Ein gutes Jahr nach den Schüssen begann der spektakuläre Mordprozess. Vier Hells Angels sitzen seither auf der Anklagebank. Schon der Prozessauftakt war ein Tag wie im Kino: Gegen 8:30 Uhr rasten vier Polizeikolonnen mit Blaulicht und Martinshorn durch Leipzig, bogen in den Innenhof des Landgerichts ein, um die Rocker aus unterschiedlichen Gefängnissen einzeln ins Gericht zu bringen. Aus Angst vor Racheakten bezog die Polizei mit einer Hundertschaft Stellung, Justizbeamte trugen Waffen und schusssichere Westen. Acht Monate ist das jetzt her. Die Aufregung hat sich seither etwas gelegt. Doch noch immer stehen jeden Dienstag gegen 9 Uhr reihenweise Polizisten und Einsatzkräfte der Sicherheitsgruppe Justizvollzug in den Gängen des Gerichts. Die Beamten filzen Taschen, kontrollieren Ausweise und nehmen gern mal jemanden auseinander, wenn sie schlechte Laune haben.

Zeugen wissen lieber nichts

Doch seinem eigentlichen Ziel ist der Prozess bisher kaum näher gekommen. Die Beweisaufnahme geht nur in Millimeterschritten vorwärts, weil Zeugen lieber nichts wissen wollen oder tatsächlich zu wenig wissen – wie Holger W. Mehr als 70 Menschen saßen bereits auf dem Zeugenstuhl im Saal 115 des Landgerichts: Hells Angels und United Tribus, Polizisten und Passanten. Die Anhänger der Motorradgangs, die im Prozess erscheinen, bleiben meist kaum zwei Minuten. Der Vorsitzende Richter Hans Jagenlauf fragt ganz korrekt: „Wollen Sie Angaben machen?“ Die Antwort lautet: Nein, wollen sie nicht. Denn sie könnten sich ja selbst belasten. Auch viele Polizisten, die aussagen, kamen erst zum Tatort, als der kurze, tödliche Tumult schon wieder vorbei war. Mehr als 100 Zeugen stehen noch auf der vorläufigen Liste – und falls man sie alle hören will, sind vorsorglich weitere Verhandlungstage bis zum Dezember 2020 vereinbart.

Es ist auch eine große Morningshow, die jeden Dienstag abläuft, bevor es losgeht. Anwälte in Anzügen und mit Rollkoffern betreten breit lächelnd und laut grüßend ihre Bühne. Zu den Polizisten in Kampfmontur sagen sie Sätze wie: „Hat man uns die Schönsten hingestellt? Sind auch Mädels dabei?“ Wenn die vier angeklagten Hells Angels in Handschellen, aber grinsend in den Saal geführt werden, gibt es jedes Mal ein großes Hallo. Manche Angeklagte, Anhänger der Gang und Anwälte begrüßen sich kumpelhaft, klopfen sich auf die Schultern – unter ihnen auch Marcus M., der als früherer Anführer der Leipziger Hells Angels gilt. Er hatte sich zwischenzeitlich abgesetzt, wurde aber von der österreichischen Spezialeinheit „Cobra“ in Wien nach einem Tipp aufgespürt und verhaftet.

In der ersten Besucherreihe nehmen regelmäßig ein paar Hells-Angels-Anhänger Platz, sie bringen stoffbeutelweise Snacks mit, die in der U-Haft wohl nicht so leicht zu haben sind: Schokoriegel und Säfte, Minisalamis und Fleischbällchen. Dazu werden Plastikbecher mit Kaffee aus dem Automaten gereicht. Die Inszenierung soll wohl auch demonstrieren: Hier sitzen die Falschen auf der Anklagebank – es seien doch nur harmlose Jungs. Curt-Matthias Engel, ein Leipziger Anwalt in Nadelstreifen und Krawatte, vertritt den 31-jährigen Stefan S., den die Ermittler für den mutmaßlichen Schützen halten. Engel aber sagt: „Für meinen Mandaten streitet die Unschuldsvermutung. Man hat ja nicht mal Schmauchspuren bei ihm gefunden.“

Auch der Anwalt streitet für S.. Bei jeder Kleinigkeit grätscht er in die Verhandlungsführung, hinterfragt, zieht in Zweifel. Auch beim Zeugen Holger W. war das so: „Sie sagen: ,Der Schütze!‘ Haben Sie das gesehen – oder denken sie sich das bloß?“ geht er den unbescholtenen Zeugen an. Auch den Vorsitzenden Richter Hans Jagenlauf weist er zurecht: Er würde durch seine Art der Fragen den Zeugen beeinflussen. Eine Woche später verliest Engel eine Erklärung, nach der der Zeuge W. weder fundiert noch glaubhaft und zudem völlig widersprüchlich ausgesagt habe.

36-Sekunden-Film im Mittelpunkt

Hart verhandelt wird vor allem über ein Handyvideo, das die tödlichen Schüsse zeigt. Ein Passant hatte die Mordszene von der gegenüberliegenden Straßenseite gefilmt. Das Video ist nur 36 Sekunden lang, die Qualität von Bild und Ton sind schlecht. Dennoch beschäftigt es den Prozess schon seit Monaten. Auf den mehr als 1 000 Einzelbildern ist zu erkennen, wie sich die Gangs begegnen. Man sieht die Tritte, hört sieben Schüsse. Sie dauern keine drei Sekunden. Zig Mal wurde der Film schon auf der riesigen Leinwand im Gerichtssaal gesehen, Bild für Bild analysiert. Es ist ein zentrales Zeugnis der Bluttat und könnte den Prozessausgang mit entscheiden.

Für die exakte Analyse hat das Gericht daher Dirk Labudde als Gutachter bestellt. Ein Professor für Informatik und Bioinformatik, der an der Hochschule Mittweida digitale Forensik lehrt und überregional als Experte für Cyber-Kriminalität geachtet wird. Doch Anwalt Engel und seine Kollegen bezweifeln seine Kompetenz. Immer wieder versuchen sie, Labudde durch Zwischenfragen aus dem Konzept zu bringen. Da wird auch mal lautstark über die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit gestritten. Die These der Verteidiger: Das Beweisvideo könnte manipuliert sein. Sie haben mit dem Sachverständigen Ulrich Diezel aus Berlin einen eigenen forensischen Gutachter eingeschaltet. Diezel hat einzelne Stellen im Video ausgemacht, an denen Handbewegungen etwas ruckeln. Ein Zeichen dafür, dass das Video manipuliert wurde? Der Streit ist bis heute nicht ausgestanden.

Doch der Prozess muss jede Handbewegung einem Täter zuordnen und ihm seine Beteiligung nachweisen. Es muss geklärt werden: Wer hat geschossen? Wer hat dem Todesopfer Veysel A. noch gegen den Kopf getreten, als er schon am Boden lag? So quält sich der Prozess von Woche zu Woche. Schon zu Beginn hatten die Verteidiger die Verhandlungen mehrfach mit Besetzungsrügen und Befangenheitsanträgen gestoppt. Dann kam noch die Erkrankung einer Richterin dazwischen. Journalisten sind nur noch selten im Prozess. Ab und zu kommen Schülergruppen oder Jura-Studenten für eine Lehrstunde in den Gerichtssaal. Sie brauchen viel Geduld.

Hintergrund der tödlichen Schüsse waren offenbar Machtkämpfe der Rockergruppen: Die United Tribunes, denen überwiegend Migranten angehören, führten an der Eisenbahnstraße ihr Klubhaus und ihr Revier. Die Hells Angels aber wollten den Einfluss der Neulinge offenbar nicht hinnehmen. Nachdem einer der Tribunes-Bosse, der in Leipzig lebende Iraner Sooren O., einen „Höllenengel“ am Vormittag geschlagen habe, hätten die Rocker Rache nehmen wollen, vermutet Staatsanwalt Lunkeit. Doch während die „Tribunes“ nur mit einer Prügelei rechneten – wie das spätere Opfer Umut A. in einer Vernehmung ausgesagt haben soll – sei sofort geschossen worden. „Es fielen noch die Worte: Ach du Scheiße!“, berichtete ein Ermittler. Im nächsten Moment knallte es schon.