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Die aus dem Wolfskot liest

Carina Wagner weiß fast alles über die Wölfe in der Lausitz. Die Görlitzer Biologin verfolgt ihre Spuren am Mikroskop

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Von Jana Ulbrich

Große, dunkelbraune, haarige Klumpen. „Besser kannst du es nicht kriegen“, freut sich Carina Wagner über das Etwas da vor ihr in der Glasschale. So also sieht Wolfskot aus. „Sehen Sie, er hat ein Wildschwein gefressen“, sagt die 25-Jährige mit Kennerblick auf die frische Losung, die gerade auf ihrem Arbeitstisch im Görlitzer Senckenberg Museum für Naturkunde gelandet ist. Die Kolleginnen aus dem Wolfs-Büro „Lupus“ in Spreewitz bei Hoyerswerda haben sie im Daubitzer Forstrevier aufgesammelt – dort, wo sich eines der sechs Lausitzer Wolfsrudel heimisch niedergelassen hat.

Carina Wagner wird sich gleich an die Arbeit machen. Sie wird die Losung katalogisieren. Sie wird das Präparat auswaschen und danach jedes Härchen und Knochenstückchen sorgfältig sortieren und unterm Mikroskop genauer untersuchen. Eine Sisyphus-Arbeit.

Sie wird dabei ganz genau feststellen, was und welche Mengen dieser Wolf gefressen hat. Wenn sich in den Wäldern der Lausitz neben den Losungen auch noch Reste eines Beutetieres finden, macht die junge Wissenschaftlerin auch noch eine Rissanalyse. Auf dem Seziertisch erkennt sie dann auch noch, wie alt das Tier war, und in welcher körperlichen Verfassung der Wolf seine Beute zu fassen bekommen konnte. An die 40 Losungen aus den Lausitzer Wolfsrevieren untersucht die junge Wissenschaftlerin jeden Monat. Es wird alles aufgesammelt, was sich findet. Mehr als 2000 sind schon in der Zoologischen Abteilung des Senckenberg-Museums archiviert. Carina Wagner hat die Nahrungsanalyse der Wölfe zum Thema ihrer Diplomarbeit gemacht. Jetzt arbeitet sie an ihrem Doktortitel.

Lausitzer Wolf bevorzugt Reh

Die junge Volontärin hat herausgefunden, dass die Lausitzer Wölfe bevorzugt Rehe fressen. Ganz im Gegensatz übrigens zu ihren polnischen Artgenossen, denen offensichtlich Hirsche lieber sind. „Rehe machen 55 Prozent der gesamten Nahrung der Lausitzer Wölfe aus“, erklärt die Biologin. Rotwild folgt nach ihren Untersuchungen mit 20, Schwarzwild mit 17Prozent. „Beim Rotwild reißen die Wölfe eher Weibchen und Jungtiere, beim Schwarzwild vor allem Frischlinge“, erzählt sie. „Sicher, weil das einfacher zu bekommen ist.“ Eher selten findet Carina Wagner auch Reste von Feldhasen, Mäusen oder auch mal von einem Karpfen in den Losungen.

Fünf Kilo Fleisch frisst ein Wolf am Tag. Befürchtungen der Jagdpächter, die Wölfe würden den Rehwildbestand in der Lausitz dramatisch dezimieren, will Carina Wagner nicht gelten lassen. „Ein Wolf wählt sein Revier so groß, dass die Nahrung langfristig und nachhaltig reicht“, erklärt sie.

Schafe und andere Haustiere machen in der Nahrung der Lausitzer Wölfe nicht einmal ein Prozent aus. „Es ist ja viel getan worden, die Schafherden zu schützen“, sagt die Biologin. Ihre Sisyphus-Arbeit im Labor ist dafür auch ein Stückchen Voraussetzung. Denn ihre Nahrungsanalysen sind Teil des sogenannten Wolfs-Monitorings, bei dem alle Entwicklungen und Tendenzen in der Lausitzer Wolfspopulation genau beobachtet und analysiert werden.

„Wir forschen, damit Wolf und Mensch auf Dauer miteinander auskommen können“, bringt der Chef der Zoologischen Abteilung, Hermann Ansorge, den Sinn dieser Arbeit in einen Satz. Zu den „wissenschaftlichen Sekretären der Wölfe“, wie Ansorge das scherzhaft nennt, gehören neben ihm und Carina Wagner auch noch eine zweite junge Biologin, ein Praktikant im Labor und die beiden Expertinnen aus dem Wolfsbiologischen Büro „Lupus“, Ilka Reinhardt und Gesa Kluth. „Die beiden Frauen sind die derzeit besten Wolfskenner Deutschlands“, ist Ansorge überzeugt. „Nur wenn wir wissen, wo die Wölfe sind und was sie gerade tun, können wir auch auf die Probleme und Konflikte reagieren, die mit ihrer Ansiedlung bei uns verbunden sind“, erklärt der Biologe und Hochschulprofessor.

Aktuell geht es zum Beispiel gerade um die Tatsache, dass Wölfe in einem Gebiet am Stausee nördlich von Bautzen aufgetaucht sind. „Es wäre durchaus möglich, dass sich ein neues Rudel dort ansiedelt“, sagt Ansorge. Die Wolfsexperten werden das jetzt genau beobachten, um die Leute im Falle eines Falles rechtzeitig informieren zu können. Beobachten, das heißt, Spuren lesen, Losungen und Risse untersuchen, Spuren lesen, Losungen und Risse untersuchen. Immer wieder. So viele wie möglich.

Erster Nachwuchs würde zehn

„Das hier ist keine Grundlagenforschung“, sagt Ansorge, „das ist, einfach gesagt, den Überblick behalten“. Einfach gesagt: Wie viele Tiere gibt es in wie vielen Rudeln? Wie hoch ist ihre Vermehrungsrate? Wohin breiten die Wölfe sich aus? Gegenwärtiger Erkenntnisstand: 40 Wölfe in sechs Rudeln und ein kinderloses Paar. Im Mai würden die ersten in der Lausitz geborenen Wolfskinder zehn Jahre alt, aber nur wenige Wölfe erreichen wirklich ein solches Alter. Sämtliche Nahrungsuntersuchungen und genetische Analysen zur Rückkehr des Wolfes in Deutschland werden von Senckenberg-Laboren aus betrieben. „Ein Projekt von gesamtnationaler Bedeutung sozusagen“, sagt Hermann Ansorge.

Vorige Woche ist er mit über 200 Losungsproben im Kofferraum zum genetischen Labor des Senckenberg-Instituts nach Gelnhausen bei Frankfurt/Main gefahren. Dort sollen jetzt per DNA-Test mögliche Verwandtschaftsverhältnisse der Lausitzer Wölfe mit Artgenossen geklärt werden, die anderswo im Lande aufgetaucht sind. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel. Durchaus möglich, dass das neue Rudel von Nachkommen der Lausitzer gegründet wurde. Auch ein kürzlich in Hessen und Nordrhein-Westfalen gesichteter Wolf könnte in den Lausitzer Wäldern geboren sein.