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Der Zukunft zum Opfer gefallen

Vor 50 Jahren zerstörte der SED-Staat die Leipziger Universitätskirche St. Pauli. DDR-Staatschef Walter Ulbricht habe die Sprengung befohlen, heißt es noch heute. Aber stimmt das?

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© epd

Tobias Prüwer

Von der geplanten Sprengung der Universitätskirche und des Augusteums am vorletzten Maitag 1968 erfuhren die Leipziger Verkehrsbetriebe spät: Erst am 24. Mai wurde ihnen mitgeteilt, dass ab dem Folgetag die Westseite des Karl-Marx-Platzes nicht mehr befahren werden durfte. Auch der öffentliche Nahverkehr wurde der Umgestaltung des Platzes untergeordnet und dauerhaft verlegt. Am 30. Mai wurde laut Betriebsanweisung von 9.00 bis 10.30 Uhr der gesamte Karl-Marx-Platz für den Straßenbahnverkehr gesperrt. Die Sprengung des alten, aus Paulinerkirche und Augusteum bestehenden Universitätskomplexes war auf 10 Uhr terminiert.

Wie die Paulinerkirche verschwindet

Leipzig, am 30. Mai 1968: Um 10 Uhr wird die zur Universität gehörende Paulinerkirche...
Leipzig, am 30. Mai 1968: Um 10 Uhr wird die zur Universität gehörende Paulinerkirche...
... im Herzen der Stadt gesprengt.
... im Herzen der Stadt gesprengt.
Eine Woche zuvor ...
Eine Woche zuvor ...
... war der Abriss angekündigt worden.
... war der Abriss angekündigt worden.
Aber schon seit 1960 gab es entsprechende Pläne ...
Aber schon seit 1960 gab es entsprechende Pläne ...
... die aus wirtschaftlichen Gründen mehrfach gescheitert waren.
... die aus wirtschaftlichen Gründen mehrfach gescheitert waren.
Leipzig 1964: Blick vom damaligen Karl-Marx-Platz auf Paulinerkirche und Augusteum. Beides gehörte zur Universität.
Leipzig 1964: Blick vom damaligen Karl-Marx-Platz auf Paulinerkirche und Augusteum. Beides gehörte zur Universität.
HONORARFREI FÜR SÄCHSISCHE ZEITUNG   Foto: © Wolfgang Wittchen: Neue Universität in Leipzig.  Alma mater erinnert an Sprengung (30.Mai 1968) der Universitätskirche. Die Universität Leipzig erinnert am 30. Mai 2014 um 11:00 Uhr mit einer öffentlichen Gedenkveranstaltung an den 46. Jahrestag der Sprengung der Universitätskirche St. Pauli in Leipzig.      Foto: Wolfgang Wittchen / www.wolfgang-wittchen.de / Wolfgang Wittchen
HONORARFREI FÜR SÄCHSISCHE ZEITUNG Foto: © Wolfgang Wittchen: Neue Universität in Leipzig. Alma mater erinnert an Sprengung (30.Mai 1968) der Universitätskirche. Die Universität Leipzig erinnert am 30. Mai 2014 um 11:00 Uhr mit einer öffentlichen Gedenkveranstaltung an den 46. Jahrestag der Sprengung der Universitätskirche St. Pauli in Leipzig. Foto: Wolfgang Wittchen / www.wolfgang-wittchen.de / Wolfgang Wittchen

Nur wenige Stunden vor dem Abbruch wurden Bedenken laut: Was, wenn die Wucht der Detonation die Glasfront des gegenüberliegenden Hotels beschädigt? Dieses Bild wollten die Verantwortlichen nicht der Weltöffentlichkeit zeigen. Eilends wurden die Verkehrsbetriebe angewiesen, Straßenbahnzüge vor dem Hotel als Dämpfer aufzureihen. Die Peinlichkeit des Glasbruchs im Hotel blieb den Behörden erspart. Dafür ging zu ihrem Missfallen rasch das Bild der gesprengten Paulinerkirche um die Welt und dokumentierte die Lücke im Stadtbild. Geschlossen wurde sie Jahre später durch den 1973 begonnenen Bau eines Hörsaalgebäudes. Das wiederum musste 2007 Platz für einen Neubau machen: für das im Dezember vergangenen Jahres eingeweihte Paulinum. Es beherbergt wissenschaftliche Institute, Aula und einen Andachtsraum.

„Für die Notrettung der Kunstschätze in der Paulinerkirche blieb in der letzten Maiwoche 1968 kaum Zeit“, sagt Simone Tübbecke, Sprecherin der Universitätskustodie. Die Kustodie ist für die Betreuung des gesamten Kunstbesitzes der Leipziger Universität zuständig. „In nur sieben Tagen musste alles, was möglich war, geborgen werden. Besonders bei den Epitaphien, die ja in den Wänden verankert waren, bedeutete das, dass sie herausgebrochen wurden, wie man es restauratorisch nicht machen würde. Von einigen sind nur Bruchstücke wie ein Totenkopf oder Engel übrig.“

Viele der geretteten Artefakte sind in einer Sonderschau zu sehen, die die Kustodie in der Galerie des Universitätsneubaus auf dem Augustusplatz zeigt, dort, wo damals die gesprengten Gebäude standen. „Dass rund 80 Prozent der Kunstwerke gerettet werden konnten in der kurzen Zeit, ist schon erstaunlich“, sagt Simone Tübbecke. Rund 15 Jahre hat die Restauration und Rekonstruktion der Grabdenkmäler gebraucht, von denen 26 auf Dauer im Paulinum zu sehen sind. Ein bisschen komisch sei es schon, so Tübbecke, dass die Kustodie erst aufgrund der Kirchensprengung gegründet wurde. Neben den sakralen Überbleibseln widmete sie sich bald der Verwaltung vieler anderer Kunstwerke.

Ende der Kirche lange geplant

Studiert man die Akten, erfolgte die Sprengung im Mai 1968 nicht überraschend. Mehrfach war sie geplant. Für die damals Dabeigewesenen fühlte sich das ganz anders an, zumal der mehrfache Aufschub der Zerstörung auch immer Hoffnung auf dauerhafte Verschonung in sich barg. Außerdem hatte der sichtbare Einschnitt in die Stadtarchitektur immense Symbolkraft. So halten bis heute Leipziger an der Legende fest, Staatschef Walter Ulbricht höchstpersönlich habe, als er 1960 in der Oper stand und zur Kirche blickte, den Abriss angeordnet.

Die Zerstörung der Leipziger Universitätskirche St. Pauli wird in aller Regel als einzigartig betrachtet. Das hängt mit ihrem geschichtsträchtigen Status und der exponierten Stadtlage zusammen, zumal sie die Bombardierung Leipzigs im Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden hatte. 1240 als Kirche des Dominikanerklosters geweiht, ging der ursprünglich gotische Hallenbau nach der Einführung der Reformation – Ablassprediger Johann Tetzel fand hier seine letzte Ruhestätte, Luther predigte hier – 1544 in Universitätsbesitz über und wurde Bestandteil des Campus. Sie wurde mehrfach nach den Moden der jeweiligen Zeit umgestaltet. Die letzte Umformung im neogotischen Zuckerbäckerstil erfolgte im ausgehenden 19.  Jahrhundert. Bereits 40 Jahre später dachte man wieder über einen Umbau nach.

Um die damalige Situation besser verstehen zu können – es ging eben nicht aus bloßer SED-Willkür allein um die Kirche –, muss man die Sprengung in einem größeren Zusammenhang sehen. Da war zum einen die sich im marxistisch-leninistischen Geiste anbahnende Hochschulreform, zum anderen der städtebauliche Zeitgeist nicht nur der sozialistischen Staaten. Es herrschten eine allgemeine Modernismuseuphorie und der Drang nach Erneuerung. Dass das Alte wegkann, hatte in Leipzig sowieso Tradition. In der Messestadt hatte man sich beispielsweise schon früh seiner Barockanlagen entledigt, immerhin Vorbild für den Dresdner Zwinger, um Platz für Neues zu schaffen. Ungewöhnlich war diese Stimmung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Man denke nur an den Abriss des Braunschweiger Schlosses, das man 2007 unter dem Eindruck eines neuen Zeitgeistes als Einkaufszentrum nachzubilden versuchte. So, wie man in Leipzig in jüngster Zeit die Paulinerkirche dem Anschein nach wiederherstellen wollte.

Das Kernstück der sozialistischen Stadt

Während der 1960er-Jahre sollte der damals unter Karl-Marx-Platz firmierende Augustusplatz insgesamt zum geistig-kulturellen Zentrum der Messestadt umgestaltet werden. Er sollte repräsentatives Kernstück der sozialistischen Stadt werden. Ein erstes markantes Signal dafür bildete der noch neoklassizistisch nachhallende, 1960 eingeweihte Operneubau, der die im Krieg zerstörten Gebäude ersetzte. Später kamen ebenso bewusste Setzungen mit der Hauptpost und dem Gewandhaus hinzu. Dem Selbstverständnis nach sollte auch der Campus der Karl-Marx-Universität imposant ausfallen. Ein Hochhaus war geplant, hinzu kamen Überlegungen zur baulichen Strukturierung. Man wollte den Universitätsbetrieb an drei Schwerpunkten in der Stadt konzentrieren. Der Hauptcampus war für die Geistes- und Sozialwissenschaften (damals: Gesellschaftswissenschaften), die Mathematik und Rechentechnik reserviert. Unter dem Motto „Rationalisierung – Aufgabe für die Universität“ wurden neben der Repräsentativität allerlei Pläne für kurze Wege, optimale und interdisziplinär flexible Raumnutzung und Energieeffizienz gefasst. Die Universitätszeitung schwärmte vom „großzügigen Neubaukomplex“.

Erste Skizzen des SED-Politbüros für ein sozialistisches Antlitz des Platzes sahen den Erhalt der Kirche vor, sie sollte aber in eine randständigere Position versetzt werden. Das erwies sich als zu kostspielig. Auf öffentlichen Protest stießen im Jahr 1960 präsentierte Pläne, in denen die Kirche fehlte. Aufgrund einer ökonomischen Zwangslage wurde das Projekt auf Eis gelegt, ebenso ein zweiter Anlauf Mitte der Sechzigerjahre. Obwohl dieses Vorhaben unter Verschluss lag, erntete auch dieses Proteste – unter anderem setzte sich das Dresdner Institut für Denkmalpflege mit einem Gutachten für den Kirchenerhalt ein.

Auch CDU-Vertreter sagten Ja

Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Am 7. Mai 1968 bestätigte das SED-Politbüro unter Vorsitz von Walter Ulbricht den Campusneubau, Abriss der Paulinerkirche inklusive. Wenige Tage später stimmten die Leipziger Blockparteien zu, auch die Vertreter der Ost-CDU gaben ihr Plazet. Am 17. Mai folgte das Uni-Rektorat und überging einfach das Nein der Theologischen Fakultät. Am Himmelfahrtstag, dem 23. Mai, stimmte schließlich auch der Stadtrat zu, bei einer Gegenstimme. Diese kam von einem Pfarrer, dessen IM-Tätigkeit für die Staatssicherheit später bekannt wurde. An diesem Tag fand auch der letzte Gottesdienst in der Paulinerkirche statt. Nach dem Stadtratbeschluss wurde das Gebäude sofort abgesperrt, die Sprengung vorbereitet. Protest sollte wenig Zeit gelassen werden. Dennoch versammelten sich Menschen, es wird von ein- bis zweihundert berichtet, zur stummen Gegenrede. Einige Tausend Menschen beobachteten dann, wie in den Morgenstunden des 30. Mai 1968 700 Jahre Stadtgeschichte in einer Staubwolke verschwanden.

Dieser Raubbau an der Kultur blieb nicht unwiderstanden. Unterschriftenlisten kursierten, Eingaben erfolgten. Bekannt wurde eine spektakuläre Aktion von Studierenden: Im Juni 1968 entrollten sie beim Abschlusskonzert des Internationalen Bachwettbewerbs in der Kongresshalle mit einer technischen Vorrichtung ein Transparent mit Kirchenabbildung und Wiederaufbauforderung. In mehreren Uni-Fakultäten wurde Unmut breit, sodass die SED-Kreisleitung sogar eine Argumentationshilfe als Handreichung herausgab. Es kam auch zu Verfolgung, Kontrolle, willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen von kritischen Stimmen. Eine Diplomarbeit, die die eigens vom Rektorat angeordnete Notrettung des kunsthistorisch wertvollen Kircheninterieurs inventarisierte, durfte nicht veröffentlich werden. Man fürchtete ihre Brisanz.Nicht eine Person, sondern mehrere Gremien trugen folglich die Verantwortung für den Abriss. Und nicht allein aus dem sozialistischen Städtebau heraus wird diese Denkmalzerstörung erklärbar: Eine intensiv genutzte Kirche als Teil einer Universität, die noch dazu Marxens Namen trägt, war für die DDR-Ideologie kaum hinnehmbar. Zumal in dieser Zeit eine gravierende Umwälzung in der Bildungslandschaft anstand: Die 3. Hochschulreform sollte ab 1967/68 einer Kulturrevolution gleich vieles verändern. Die Wissenschaft wurde neben Kapital, Arbeit und Boden zur vierten Produktivkraft des Landes erklärt. Per Parteitag wurde die „kulturelle Grundaufgabe“, nämlich die „geistige Formung des Menschen der sozialistischen Gesellschaft und Schaffung der sozialistischen Nationalkultur“ beschlossen. In den Hochschulen wurde die „Einheit von Ausbildung und sozialistischer Erziehung“ zur Doppelaufgabe.

Auf einer Universitätskonferenz hieß es 1967: „Täglich muß Antwort auf die Frage gegeben werden: Wie kann meine Arbeit als Wissenschaftler besser, sinnvoller und effektiver gestaltet werden, um einen höheren Beitrag zur allseitigen ökonomischen, politischen, kulturellen und militärischen Festigung der DDR, zur Stärkung des Sozialismus in Deutschland und in der Welt und zur Sicherung des Friedens zu leisten.“ Da war wenig Platz für die Toleranz eines Sakralbaus, wenn es um die Formungsstätte des „neuen Menschen“ ging. Schließlich feierte man im Mai 1968 just die „Marx-Wochen“ anlässlich des 15. Jubiläums der Umbenennung in Karl-Marx-Universität.

Eine Frage der Erinnerung

Mit der Wende erfolgte die namentliche Umwidmung zur neutralen Universität Leipzig. Auch kam die Frage auf, wie man ans Schicksal der Paulinerkirche angemessen erinnert. Selbstkritisch ließ die Hochschulleitung 1993 am Hauptgebäude eine Steintafel anbringen, die ihre Rolle thematisierte. Die Paulinerkirche wurde – auch wenn sie verschwunden ist – der Liste „Erinnerungsorte der DDR“ zugefügt. Die Frage der Erinnerung schwang auch bei den Planungen für einen neuen Campusbau mit. Entflammt von Wiederaufbauzeitgeist und dem Willen, einen Schlussstrich unter die DDR-Geschichte zu ziehen, sollte nach dem Willen mancher Diskutanten eine Kopie der Kirche errichtet werden. Andere wollten einen profanen, zweckorientierten Campus. Zwischenzeitlich schalteten sich sogar 27 Nobelpreisträger ein. Es gab studentische Proteste, etwa mit der Transparentaktion „Leipzig ist nicht Dresden, Gott sei Dank“ in Anspielung auf den Wiederaufbau der Frauenkirche. Das Rektorat trat wegen „Einmischung in die Selbstverwaltung“ geschlossen zurück. Der erbitterte Streit endete im Kompromiss, an dem noch lange herumgedoktert wurde, bis zur endgültigen Einweihung des Paulinums als „geistiges und geistliches Zentrum der Universität“ im Dezember 2017.

Der Bau fungiert als ein Mehrzweckgebäude. Im Innern trennt eine Glaswand – auch um diese gab es Streit – Aula und Andachtsraum. Im steril wirkenden, strahlend weißen Innenraum (Kosten: 13,5 Millionen Euro) sollen abgeschnittene, von der Decke hängende Säulen an die ehemalige Hallenkirche erinnern. In der Kirche finden Festgottesdienste, Konzerte der Universitätsmusik und diverse andere Veranstaltungen statt, das Nutzungskonzept ist aber noch nicht fertig ausgearbeitet. Neben den erwähnten geretteten Epitaphien sind auch ein gotischer Flügelaltar aus dem 15.  Jahrhundert Teil der Innenausstattung sowie drei spielbare Orgeln.

Vom Augustusplatz aus gesehen wirkt das Paulinum wie ein postmodernes Puzzle aus Beton und Glas mit Kirchenschaufassade. In der Architekturkritik machten deshalb die Worte „Kommerzästhetik“ und „Neurussenschick“ die Runde. Kustodiesprecherin Simone Tübbecke hingegen berichtet von zufriedenen bis begeisterten Besuchern – auch unter Zeitzeugen. „Die Resonanz ist sehr positiv. Bei Führungen sagen Leute, die sich noch an Gottesdienste und Orgelkonzerte in der alten Kirche erinnern, dass sie sich sehr wohl fühlen mit der jetzigen Lösung.“

Denkmale als Zeugnisse des Zeitgeschmacks

Gerade an ihren Denkmaldebatten kann man ersehen, wie Gesellschaften jeweils verfasst sind. Dass im kurzfristigen Blick oft nur Wert hat, was gerade in den Kram und den Zeitgeschmack passt, auch dafür steht das Paulinum. Die Kirche galt 1968 als Symbol der Vergangenheit. Später, nach dem Ende der DDR, stand der Karl-Marx-Campus für Abgeschlossenes und wich dem neuen Campus, der nun als modern gilt. Nur noch das in der Stadtsilhouette markante Universitätshochhaus ist übrig. Auch wenn es nicht mehr zur Uni gehört: Die sächsische Landesregierung hat das Haus gegen den Willen der Hochschule an eine Investmentbank verkauft. Man kann es als Geschenk betrachten, dass der Neubau mit seinem sperrigen Namen auf die Debatten um ihn hinweist: „Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli“ dokumentiert auf Dauer die Wunde.

Übrigens zeigen die zum Unmut der SED-Granden aufgenommenen Fotos der Sprengung der Paulinerkirche nicht nur die Zerstörung des Kulturguts; auch Wagen der zum „Schallschutz“ eingesetzten Straßenbahnen sind darauf zu erkennen.