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Der Wundenheiler

Winfried Stöcker ist Mediziner und Millionär. Er liebt das Schöne und Edle. Feine Krawatten, teure Autos, Opern – und die Handwerker aus seinem Heimatdorf. Nun will er das Jugendstilkaufhaus in Görlitz retten.

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© Pawel Sosnowski

Von Frank Seibel

Auf dem Boden liegen zentimeterdick Sand und Staub, hier und da ragt ein Stück Rohr heraus oder das abgeschnittene Ende eines Kabels. Von den Decken sind große Placken von Farbe abgeplatzt. „Passen Sie auf, dass Sie nicht stolpern. Wir sind noch nicht ganz fertig.“ Ein Grinsen huscht über das Gesicht des Herrn mit den weißen Haaren. „Nicht ganz fertig“ ist hübsch gesagt. Aber man kann ja auch mal ein bisschen übermütig werden, wenn man zwischen prächtigen Säulen unter einer farbigen, reich verzierten Glaskuppel steht, im Hintergrund ein großer Lichthof, durchkreuzt von Treppenaufgängen aus warmem, dunklem Holz. Und wie übermütig kann man erst werden, wenn man weiß: Das gehört mir.

Das 1913 eröffnete Gebäude am Marienplatz in Görlitz steht seit fünf Jahren leer. Zuletzt wurde hier ein Kinofilm gedreht. Bald soll wieder Konsum stattfinden. Foto: dpa
Das 1913 eröffnete Gebäude am Marienplatz in Görlitz steht seit fünf Jahren leer. Zuletzt wurde hier ein Kinofilm gedreht. Bald soll wieder Konsum stattfinden. Foto: dpa © dpa

Tag der offenen Tür im Kaufhaus

Den "Tag der offenen Sanierungstür" in Görlitz haben Tausende Menschen für einen Blick in die Baustelle des Jugendstilkaufhauses genutzt. Das Interesse war riesig, wie der zuständige Projektleiter für den Umbau, Jürgen Friedel, am Sonntag sagte. Die Filmkulisse aus dem Hollywood-Film "The Grand Budapest Hotel" wird derzeit saniert und war nur am Sonntag geöffnet.
Den "Tag der offenen Sanierungstür" in Görlitz haben Tausende Menschen für einen Blick in die Baustelle des Jugendstilkaufhauses genutzt. Das Interesse war riesig, wie der zuständige Projektleiter für den Umbau, Jürgen Friedel, am Sonntag sagte. Die Filmkulisse aus dem Hollywood-Film "The Grand Budapest Hotel" wird derzeit saniert und war nur am Sonntag geöffnet.
Wegen der laufenden Bauarbeiten konnten die Besucher auch nur das Erdgeschoss des Baus aus dem Jahr 1913 besichtigen.
Wegen der laufenden Bauarbeiten konnten die Besucher auch nur das Erdgeschoss des Baus aus dem Jahr 1913 besichtigen.
Das Jugendstilkaufhaus war 2009 nach der Insolvenz der Kaufhaus-Kette Hertie geschlossen worden. Anfang 2013 diente es der Film-Crew um US-Regisseur Wes Anderson wochenlang als Filmkulisse.
Das Jugendstilkaufhaus war 2009 nach der Insolvenz der Kaufhaus-Kette Hertie geschlossen worden. Anfang 2013 diente es der Film-Crew um US-Regisseur Wes Anderson wochenlang als Filmkulisse.
Der jetzige Eigentümer hatte im vergangenen Jahr angekündigt, das Haus für rund 20 Millionen Euro zu sanieren. Es soll ab Oktober 2015 erneut als Kaufhaus eröffnet werden. In Filmen könnte es dann weiterhin zu sehen sein.
Der jetzige Eigentümer hatte im vergangenen Jahr angekündigt, das Haus für rund 20 Millionen Euro zu sanieren. Es soll ab Oktober 2015 erneut als Kaufhaus eröffnet werden. In Filmen könnte es dann weiterhin zu sehen sein.
"Wir wollen es als Kulisse sowie für Konzerte und Veranstaltungen offen halten", sagte Projektleiter Friedel.
"Wir wollen es als Kulisse sowie für Konzerte und Veranstaltungen offen halten", sagte Projektleiter Friedel.
Görlitz zeigt beim "Tag der offenen Sanierungstür" jedes Jahr die Sanierungsfortschritte in der Stadt. In diesem Jahr waren 27 Gebäude geöffnet, neben dem Kaufhaus auch ein künftiges Hotel sowie ein Gymnasium.
Görlitz zeigt beim "Tag der offenen Sanierungstür" jedes Jahr die Sanierungsfortschritte in der Stadt. In diesem Jahr waren 27 Gebäude geöffnet, neben dem Kaufhaus auch ein künftiges Hotel sowie ein Gymnasium.

Winfried Stöcker kann das seit einem Jahr sagen. Ende Juni 2013 hat der Medizinprofessor und Unternehmer alle überrascht und beinahe von einem Tag auf den anderen das schönste Kaufhaus der Oberlausitz (ach was: Sachsens, Deutschlands!) von einem britischen Investmentfonds gekauft. Vier Jahre stand es da schon leer, das hatte es in der hundertjährigen Geschichte des Gebäudes zuvor nie gegeben. Nun aber war das einstige Flaggschiff des Görlitzer Handels mausetot und wurde nur noch als Kulisse für einen heiter-melancholischen Hollywoodfilm über das untergegangene alte Europa benötigt. Keiner wusste Rat, keine Handelskette wagte sich an das schöne, aber für heutige Maßstäbe etwas unpraktische Haus heran, das lange Jahre „Karstadt“ hieß und später „Hertie“.

Nun steht Winfried Stöcker am obersten Treppenabsatz und blickt in die große, leere Halle unter der Kuppel. Nicht ganz fertig, hat er gesagt, dabei hat doch die Arbeit hier gerade erst angefangen. Wochenlang haben Handwerker in seinem Auftrag alles herausgerissen, was noch übrig war an Regalen und Zwischenwänden. So großzügig, luftig und klar hat das Haus wohl seit seiner Fertigstellung im Sommer 1913 nicht mehr ausgesehen. Aber wie viel Arbeit noch vor ihm liegen und wie viel es kosten mag, bis aus dem alten Tempel ein modernes Warenhaus wird?

Der neue Eigentümer wirkt völlig unerschrocken. Zwanzig Millionen Euro mag die Sanierung wohl kosten. Und schon im Oktober 2015 soll es fertig sein und wieder öffnen – ein richtig schönes Kaufhaus, eines, in dem ganz normale Menschen sich wohlfühlen. Aber auch ganz reiche Leute wie er selbst, der feinste französische Krawatten liebt, edle Anzüge und aparte Hemden. Das klingt alles ziemlich märchenhaft, aber in Görlitz werden Märchen manchmal Wirklichkeit, so wie das vom unbekannten Millionenspender, der seit 1995 der Stadt schon rund zehn Millionen Euro geschenkt hat, damit die schönen alten Häuser restauriert werden können.

Zwei Stufen auf einmal nimmt Winfried Stöcker, als er über eine Seitentreppe ins Dachgeschoss aufsteigt. Vor fünf Jahren waren hier lauter kleine Büros, getrennt durch Trockenbau- oder Sperrholzwände aus DDR-Zeiten. Hässlich, sagt Stöcker und schüttelt beiläufig den Kopf. Wie man mit solchen Räumen so umgehen kann! Jetzt sind alle Wände weg. Alles ist großzügig und licht. „Hier kommt das Restaurant hin“, sagt der 67-Jährige. Er deutet auf die Fenster: „Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick über die schöne Landschaft.“

15 Monate vor der geplanten Eröffnung des „Kaufhauses der Oberlausitz“ steht zwar noch kein Mieter fest, nur ein Vertrag mit einem Lebensmittelmarkt im Untergeschoss ist schon konkret. Aber Winfried Stöcker scheint schon vieles genau vor Augen zu haben. „Ich liebe die Architektur. Ich liebe es, zu bauen.“ Das ist nur eines von mindestens drei großen Talenten. Auch Opernsänger hätte er werden können; noch so etwas Schönes. Aber Stöcker verdient heute mit etwas ganz anderem sein Geld. Er ist Professor für Labormedizin und hat vor einem Vierteljahrhundert seine eigene Firma gegründet. Mittlerweile macht seine Euroimmun AG mit 1.500 Mitarbeitern pro Jahr 150 Millionen Euro Umsatz bei einer Rendite von 15 Prozent. So rechnete es das Magazin „Wirtschaftswoche“ kürzlich vor, das die Firma zu den innovativsten mittelständischen Unternehmen in Deutschland zählt.

So wie andere Menschen mit dem Auto von A nach B pendeln, ist Winfried Stöcker mit einem Privatflugzeug unterwegs zwischen seinem Firmensitz in Lübeck und seinen 14 Niederlassungen weltweit – eine davon gleich vor den Toren von Görlitz.

Lieblicher und idyllischer könnte kaum ein Ort sein. Ein Flüsschen schlängelt sich zwischen sattgrünen Hügeln durch eine irisch anmutende Landschaft zwischen Görlitz und Zittau, winzige Dörfchen, scheinbar vergessen von der Welt, ein paar Kilometer abseits der nächsten Bundesstraße, 30 Kilometer entfernt vom nächsten Autobahnanschluss liegt das Paradies, das Winfried Stöckers Heimat ist. In der Senke zwischen Rennersdorf und Kunnersdorf stand einst die Spinnerei, in der sein Vater technische Garne herstellen ließ. Eine von vielen kleinen Textilfabriken in der Oberlausitz. Ein paar Dutzend Angestellte und für die Unternehmerfamilie ein gediegener Wohlstand. Die ersten 13 Lebensjahre hat Winfried Stöcker hier verbracht, hat dabei mitbekommen, wie die heile Welt Risse bekam, als der Vater zunehmend als „Kapitalist“ in einem schlechten Licht gesehen wurde und die Bedingungen immer schwieriger wurden. 1960 entschieden sich die Eltern, die DDR zu verlassen. Sie zogen nach Pegnitz in Franken. Die Eltern gründeten eine chemische Reinigung, aber der Weg zu etwas Wohlstand war mühsam.

Wenn man Winfried Stöcker heute fragt, ob er immer schon gerne so wohlhabend sein wollte, wie er es jetzt ist, kommt die Antwort überraschend schnell und klar: Ja! Warum? Weil ich arm war. In solchen Momenten setzt er ein eigentümlich maskenhaftes Lächeln auf, gerade so, als wolle er die hässlichen Seiten seines Lebens verbergen. „Wir haben uns zu sechst eine Apfelsine geteilt, meine drei Geschwister, meine Eltern und ich. Ich habe beschlossen, dass das anders werden muss.“ Er wählte von seinen Talenten die Gabe, logisch und schnell zu denken – dazu noch erfinderisch zu sein – und studierte Medizin. Er spezialisierte sich auf den Bereich, der den Menschen dient, aber mit Menschen nicht unmittelbar zu tun hat: Labormedizin. Er promovierte, habilitierte, wurde ein erfolgreicher Erfinder immer neuer Methoden, in Blut oder Urin Krankheiten zu erkennen. In Lübeck gründete er 1987 seine Euroimmun AG, die Reagenzien entwickelt und herstellt, die in Labors überall auf der Welt eingesetzt werden.

Schon bald nach der Wiedervereinigung machte sich Winfried Stöcker daran, in Rennersdorf das elterliche Grundstück mit Wohnhaus und der alten Spinnerei zu erwerben. Während die Textilindustrie in der Oberlausitz zusammenbrach, baute er hier ab 1991 etwas Neues auf, ein Hightech-Unternehmen mit gut ausgebildeten und auffallend gut gelaunten Mitarbeitern. Denn die Firma funktioniert nicht nur, sie ist auch ein Ort zum Wohlfühlen.

Schön sollen es die Menschen hier haben. Immer wieder betont das der Chef, der alle hier duzt und sich von allen duzen lässt; wie das so üblich ist auf dem Dorf. Er duzt die Frauen in der lichtdurchfluteten weißen Fertigungshalle, er duzt den Schmied, den Tischler, den Elektriker, den Bauunternehmer, mit denen er Häuser saniert und modernisiert. Er duzt nicht von oben herab, sondern versucht sich zu verhalten, als wäre er noch immer einer von ihnen, der Bub aus Rennersdorf. Und er spricht voller Hochachtung über die Menschen, mit denen er am „Gemeinschaftswerk“ arbeite, wie er sagt. Wenn Stöcker in Lübeck eine alte Kaserne saniert oder Fenster für eine neue Niederlassung in China braucht, dann macht er das mit den „tollen Handwerkern“ aus seiner Heimat – genauso wie er es nun natürlich beim Görlitzer Kaufhaus tut.

Nur ein paar Mal im Jahr ist Winfried Stöcker selbst hier in Rennersdorf, hat also wenig vom Betriebsrestaurant im obersten Stockwerk des denkmalgeschützten Haupthauses, das wohl zu den besten Restaurants der Oberlausitz gezählt werden kann. Er selbst zehrt von der Schönheit in der Welt; liebt die Oper, ist einer der Premium-Sponsoren der Staatskapelle Dresden, trägt auch in der Freizeit feinste Jeans und Hemden, gleitet mit einer schwarzen Limousine durch die Dörfer.

In Bernstadt baut er einen Kindergarten für seine Mitarbeiter, macht aus mehreren alten Spinnereien neue, hochmoderne Medizin-Fabriken, reißt dazu hässliche DDR-Zweckbauten ab. Er legt parkähnliche Gärten um die Fabriken herum an, will Wirtschaft, Kultur und Natur in Einklang bringen. Er will schön machen, was zu lange hässlich war. Dafür hat Stöcker den halben Marktplatz seines Heimatortes gekauft, um dort ein stilvolles Hotel zu bauen.

Dafür hat er auch das Kaufhaus in Görlitz gekauft. Das allerdings war kein Opfer des Kommunismus – eher eines irren Kapitalismus. Denn das Kaufhaus an sich hat funktioniert, aber die Besitzer in London, die manche hier wütend „Heuschrecken“ nannten, verlangten eine mörderisch hohe Miete.

Der musische Medizinprofessor will das alte Kaufhaus nicht nur restaurieren. Er will auch zeigen, dass es funktioniert. Wie so oft, vertraut er dabei ganz seinen eigenen Beobachtungen, seiner Eingebung. Viele zweifeln, dass es für so einen schicken Konsumtempel am Rande der Republik überhaupt genug Kunden geben wird. Stöcker sagt: Statistiken über Kaufkraft und Konsumverhalten in der östlichen Oberlausitz „interessieren mich nicht“. Er hat die schönen Frauen aus Polen dabei beobachtet, wie gerne sie schöne Kleider kaufen, Schmuck und Parfüm.

Dass alteingesessene Händler mit Ach und Krach über die Runden kommen, dass unter der Woche tagsüber die vielen Arbeitslosen das Bild der Görlitzer Innenstadt prägen, dass vor dem Kaufhaus, auf dem Marienplatz von früh bis spät die Bierflaschen kreisen, all das scheint Stöcker nicht zu beirren. Ob er das überhaupt wahrnimmt, wenn er nur vier-, fünfmal im Jahr aus einer anderen Umlaufbahn einschwebt? „Ich möchte den Menschen hier Mut machen“, sagt der Mann mit den großen Plänen und dem vielen Geld. Den Vergleich mit dem „Kaufhaus des Westens“ in Berlin hat er bewusst selbst ins Gespräch gebracht. Er sei überzeugt, dass Menschen das Gute erkennen und schätzen.

Es ist noch nicht ganz fertig, aber Stöcker lässt keinen Zweifel daran, dass auch das Jugendstilkaufhaus so gelingt wie alles, was er bislang angefasst hat: gut und schön. Selbstlos ist Stöcker dabei nicht; er genießt ja selbst gerne. Großzügig darf man ihn vielleicht nennen, aber nicht verrückt. Die heile Welt muss schon funktionieren, darf nicht nur Kulisse sein. Aber sie könne auch funktionieren. Das ist Stöckers Credo – allen düsteren Statistiken zum Trotz, die in Görlitz das Armenhaus Deutschlands sehen. „Ich wollte reich werden und will auch nicht wieder arm werden“, sagt er.