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Der verstörende Wunschzettel

Erst trennt sich die Familie, dann stirbt der Vater vor den Augen der Kinder. Jetzt muss die Mutter mit Baby und vier traumatisierten Kindern allein klarkommen. Lichtblick unterstützt sie.

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© Ronald Bonß

Olaf Kittel

Es wird das erste Weihnachtsfest ohne den Papa. Liane Petzold* will deshalb, dass es ihre Kinder besonders schön haben. Den Weihnachtsbaum wird sie schmücken, die Geschenke für ihre fünf einzeln verpacken, sie weiß nur noch nicht, ob sie die unter den Baum legt oder doch lieber gleich auf den Tisch. Toska, ihre Älteste, die Zwillinge Magda und Eva und der Thomas durften ihre Wunschzettel abgeben, mussten allerdings enge Limits einhalten. Sie konnten selbst entscheiden, ob es ein etwas größeres Geschenk oder mehrere kleine werden sollen.

Am Weihnachtsabend wird es Würstchen und Kartoffelsalat geben, natürlich selbst gemacht, die Kinder schnippeln mit. Die Oma wird kommen, die ihnen beigestanden hat wie keine andere in diesem schrecklichen Jahr. Es wird bestimmt ein schönes Fest. Sehr wahrscheinlich reden sie dann, wenn die Geschenke ausgepackt und die Würstchen verspeist sind, auch wieder über ihren Wunschzettel. Da sind die Wünsche drauf, die sie sich nicht selbst erfüllen können, für die sie jetzt Hilfe brauchen. Diesen besonderen, verstörenden Wunschzettel kann aber nur verstehen, wer die ganze Geschichte kennt.

Liane Petzold, Jahrgang 77, ist in Dresden aufgewachsen, hat den Schulabschluss der 10. Klasse. Zu diesem Zeitpunkt war ihr schon klar: Sie will mal viele Kinder, und sie will Altenpflegerin werden. Eine Freundin hatte sie darauf gebracht. Zunächst absolvierte sie eine Hauswirtschaftslehre, dann ließ sie sich noch einmal zwei Jahre zur Altenpflegerin ausbilden. Seit 1998 ist sie in ambulanten Pflegediensten tätig und liebt ihren Beruf. Sie ist froh, dass sie anderen Menschen helfen kann, die sie manchmal drei- oder viermal am Tag besucht. Sie freut sich über ihre Dankbarkeit. „Oft bin ich der einzige Ansprechpartner. Ich gehöre dann zur Familie.“

So hilft Lichtblick

Aktuell läuft die 21. Spendenaktion von Lichtblick. Im Dezember 1996 bat Lichtblick erstmals um Spenden für Menschen in Ostsachsen, die unschuldig in Not geraten sind.

Kontakt: Hilfesuchende wenden sich bitte an Sozialverbände, Sozialämter und gemeinnützige Vereine, mit denen Lichtblick zusammenarbeitet.

Erreichbar ist Lichtblick Montag bis Donnerstag von 9 bis 16 Uhr, Telefon 0351/4864 2846, Fax - 9661, E-Mail: [email protected], Anschrift: Sächsische Zeitung, Stiftung Lichtblick, 01055 Dresden, Website: www.lichtblick-sachsen.de

Bankverbindung

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2001 hat sie ihren Mann kennengelernt, einen Maurer aus Sachsen-Anhalt. Sie wird den Tag nie vergessen: Es war der 11. September, in New York fielen die Zwillingstürme. Dann geht alles rasch: Er zieht nach Dresden, ein halbes Jahr nach dem Kennenlernen folgt die Hochzeit, ein Jahr später kommt Toska auf die Welt. Der Vater übernimmt die Elternzeit, er ist bereits krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Dann werden die Zwillinge geboren, wieder übernimmt er die Elternzeit und kommt zunächst ganz gut klar mit seinen drei Mädchen. Seine Frau übernimmt Nacht- und Notdienste, um die Familie besser über Wasser zu halten.

Vor etwa zehn Jahren dann merkt Liane Petzold, wie sich ihr Mann verändert. Er wird immer eifersüchtiger, nimmt jeden in ihrem Umfeld als Konkurrenten wahr. Es wird immer schlimmer, es wird krankhaft. Er ruft seine Frau bis zu 20 Mal täglich auf Arbeit an, bald darf sich niemand mehr der Familie nähern. Im Haushalt muss sie immer mehr Aufgaben übernehmen, weil es ihr Mann nicht mehr schafft. „Ich ging am Limit und zog deshalb im vergangenen Jahr die Notbremse.“ Eine schwere Entscheidung, die ihr heute noch zu schaffen macht. Aber sie konnte damals nicht anders. Außerdem hoffte sie darauf, dass alles wieder gut wird.

Sie nahm Toska und einen Zwilling – sie gehören nicht zu den unzertrennlichen – mit, die beiden anderen Kinder blieben bei ihrem Mann. Sie hatten von ihm nichts zu befürchten, glaubt sie. Aber er sorgt dafür, dass die Kinder im vergangenen Jahr Weihnachten nicht zusammen feiern dürfen. Liane Petzold hatte in ihrer alten Wohnung Hausverbot, sie stand ohne Ersparnisse da. Und sie erwartete ihr fünftes Kind, eine Risikoschwangerschaft. Von wegen frohe Weihnachten.

Im Januar gab es noch einmal einen Hoffnungsschimmer: Ihr Mann war zum ersten Mal bereit, einen Arzt aufzusuchen und sie vereinbarten einen Termin beim Jugendamt, um ihre Probleme zu regeln. Sie sprachen wieder miteinander. Doch dann kam der 30. Januar. Vereinbart war, dass sie Thomas zu einem Besuch abholt. Aber ihr Mann geht nicht ans Telefon. Sie versucht es unentwegt und stundenlang. Dann ruft Magda erst bei der Oma, dann bei ihr an, obwohl der Vater das verboten hatte: Sie soll schnell kommen. Die Kinder öffnen, sie nimmt noch wahr, dass es in der Wohnung fürchterlich aussieht. Sie findet ihren Mann im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Er ist tot. Sie ruft ihre Mutter um Hilfe, zieht die Kinder an und schickt alle weg, bevor sie die Notdienste ruft. Später wird sie erfahren, dass ihr Mann an multiplem Organversagen gestorben ist. Die Kinder erzählen, dass sie ihren auf dem Boden liegenden Vater tagelang mit Essen und Trinken versorgt haben. Er hinterlässt eine traumatisierte Familie.

Zum Glück reagieren das Kriseninterventionsteam und das zuständige Jugendamt in Dresden-Blasewitz schnell und professionell. Sie sorgen dafür, dass die Kinder rasch wieder zur Mutter kommen, trotz der Risikoschwangerschaft. Sie versorgen eine neue Wohnung, damit die Kinder das belastete Umfeld verlassen können. Und sie vermitteln Corina Panoscha, eine Traumapädagogin der Kindervereinigung Dresden, die von nun an 15 Stunden pro Woche der Familie zur Verfügung steht.

Sie hat dort alle Hände voll zu tun. Zunächst müssen Witwen- und Halbwaisenrenten beantragt werden, damit sie finanziell versorgt sind. Sie hilft, den Tagesablauf in den Griff zu bekommen, erst recht, als im Mai Sophia auf die Welt kommt. Die Kinder brauchen viel individuelle Zuwendung. Frau Panoscha, die sich als Anschieberin versteht, regt Familienkonferenzen an, in denen Regeln vereinbart und Wochenpläne aufgestellt werden. Manchmal gibt es eine extra Mädelsrunde. Und sie macht immer wieder Mut, vor allem der alles entscheidenden Person: der Mutter. „Die Familie ist Weltklasse. Sie machen alle mit, sie lassen sich nicht hängen.“ Deshalb kann sie ihre Hilfe jetzt auf zehn Wochenstunden reduzieren. Auch die Oma hilft, wo sie kann, ein Onkel unterstützt bei den Schularbeiten. Thomas als einziger Junge hat zusätzlich einen männlichen Betreuer an der Seite, den er inzwischen sehr mag. Dennoch ist der Weg weit, es gibt noch viel zu verarbeiten. Deshalb haben sie ihren gemeinsamen Wunschzettel aufgestellt und hoffen sehr, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen.

Der erste Wunsch: Papa soll fast ein Jahr nach seinem Tod endlich beerdigt werden. Noch steht die Urne im Krematorium, kostet jeden Monat Geld, weil die Behörden die Verwandtschaft beider Eltern absuchen, ob sich nicht doch jemand findet, der für die Beerdigungskosten aufkommen kann. Frau Petzold kann es nicht. Vor allem die Mädchen brauchen jetzt aber dringend einen Ort, wo sie auch mal allein hingehen und um ihren Papa trauern können. Deshalb ist die Beerdigung jetzt ihr wichtigster Weihnachtswunsch.

Eine größere Wohnung ist der zweite. Ihre Vierzimmerwohnung reicht nicht. Die Mutter schläft im Wohnzimmer, das Baby und Thomas zusammen ist auch keine ideale Zimmerbelegung. Sie wünschen sich eine große Wohnung, möglichst in Gruna, damit die Kinder nicht auch noch die Schule wechseln müssen. Vielleicht meldet sich ja ein Vermieter?

Der dritte Wunsch: Zum ersten Mal als ganze Familie zusammen verreisen. Frau Panoscha versucht, für die Familie eine Kur zu bekommen. Das wäre ideal, sie würde allen helfen, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden.

Der vierte und letzte Wunsch: Die Zwillinge Magda und Eva brauchen dringend ein neues Doppelstockbett, das alte ist kaputt. Und die Spülmaschine ist es auch, da muss eine neue Umwälzpumpe eingebaut werden. Diese Wünsche werden ganz schnell erfüllt. Lichtblick hilft sofort.

* Name von der Redaktion geändert. Die SZ akzeptiert auch den Wunsch der drei Mädchen, auf dem Foto nicht erkennbar zu sein.