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Der Segen der Neugier

25 Jahre lang war Andreas Böer Bürgermeister seiner kleinen Stadt. Als Rentner genießt er neue Freiheiten, stellt sich als Langschläfer den Wecker trotzdem auf sieben Uhr und genießt es, ein junger Alter zu sein.

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© Thomas Kretschel

Frank Seibel

Wie eine Glucke sitzt die Kirche auf der kleinen Stadt. Andreas Böer gefällt dieses Bild. Deswegen geht er fast täglich die paar Hundert Meter von seinem Haus zur kleinen Anhöhe am Rand von Reichenbach, um hinunterzuschauen auf den Ort und die Kirche. Dick und bauchig wirkt der Turm des evangelischen Gotteshauses aus dem 13. Jahrhundert. Hier wurde Andreas Böer vor 66 Jahren getauft. Und hier wird, hoffentlich erst in ferner Zukunft, der letzte Segen für ihn gesprochen werden.

Vom Töpferberg aus überblickt Andreas Böer das Städtchen nahe Görlitz, dem er 25 Jahre lang so etwas wie Geborgenheit und Gewissheit gab: Alles wird gut ... Beinahe so, wie diese Kirche. Er sieht das mittelalterliche Ensemble mit Mauer, Hussitentor, Marktplatz einer großen evangelischen und einer kleineren katholischen Kirche, er sieht im Zentrum einen Giebel mit Glasfront, das „Via-Regia-Begegnungszentrum“, denn Reichenbach lag zur Zeit seiner Entstehung an der wichtigsten West-Ost-Verbindung quer durch Europa, der Via Regia. Und er sieht gleich nebenan das Geburtshaus des berühmtesten Reichenbachers – Ludwig Eduard Nollau. Der hat zwar aus Armutsgründen im 19. Jahrhundert seine Heimat verlassen, in der „neuen Welt“ aber große Spuren hinterlassen. Nollau hat eine der wichtigen christlichen Kirchen der USA, die United Church of Christ, gegründet und damit gewissermaßen auch dem heutigen Präsidenten Barack Obama eine spirituelle Heimat geschaffen. Und schließlich blickt Andreas Böer auf ein großes modernisiertes Haus mit gläsernem Eingangsportal. Hier ist er seit 1990 fast täglich ein- und ausgegangen. Es ist das Rathaus von Reichenbach, und Andreas Böer war der Bürgermeister. Die letzte Wahl fand im vorigen Jahr kurz nach seinem 65.  Geburtstag statt. Zeit, aufzuhören. In dem Büro, in dem er seit seinem 41. Lebensjahr gearbeitet hat, sitzt jetzt eine Frau, wenig älter als er damals.

„Überhaupt kein Problem“, sagt Andreas Böer mit einem dicken Ausrufezeichen. „Das war ein klarer Schnitt. Und er kam für mich ja nicht unvorbereitet.“ Wann er zuletzt im Rathaus war? „Vor drei Tagen“, sagt er und lächelt verschmitzt und lauernd: „Aber nicht so, wie Sie jetzt denken“. Er hat nicht seine Nachfolgerin besucht, um ihr gute Ratschläge zu geben. Obwohl er sein Temperament schon manchmal sehr zügeln muss, um nicht irgendeinen Kommentar rauszuhauen. „Frauen denken anders“, versucht er’s mit weisem Lächeln. Und dann müsse man ja auch bedenken, dass sie erst wenige Monate im Amt ist.

Ja, er kennt die Gefahr, dass man zum „Klugscheißer“ wird, wenn man mit den Jahren gelernt hat, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden – „oder zumindest das, was man für wichtig hält, das ist ja alles relativ“. Er ist froh, dass ihm heute Sachen „am Rücken vorbeigehen“, über die er sich vor 15 Jahren noch fürchterlich aufgeregt hat. So gesehen, waren die letzten Amts- und damit Berufsjahre die vielleicht besten. „Es ist einiges geworden“, sagt er und listet in seiner persönlichen Bürgermeisterbilanz nicht die Bibliothek, das Begegnungszentrum, das Nollau-Haus oder das sanierte Museums- und Feier-Schloss aus Preußenzeit auf. „Für mich ist das Wichtigste, dass die Menschen hier ziemlich gut zusammenhalten.“ Und das in einem Ort, über dem die Kirche zwar Geborgenheit ausstrahlt, in dem die meisten Seelen aber, wie überall hierzulande, mit der Religion nicht viel zu tun haben. Dennoch ist für den Pfarrerssohn die kleine Stadt eine wirkliche Kommune, eine Gemeinde nicht nur im statistischen oder kommunalrechtlichen Sinne – sondern, ja, auch in einem spirituellen Sinn. Wenn Andreas Böer von „richtig guter Vereinsarbeit“ spricht, geht es nicht um Bierseligkeit, sondern um ein Miteinander, das mit Geben und Nehmen zu tun hat. Und wenn er erzählt, dass jetzt die kleine Stadt 100 Flüchtlinge aufgenommen hat „und die Menschen ganz friedlich miteinander umgehen“, dann weichen Schalk und auch Skepsis aus dem stoppelbärtigen Gesicht. Dann strahlt aus den Augen Dankbarkeit.

Eigentlich ist das jetzt eine tolle Zeit. Morgens etwas länger schlafen; nicht zu lange, das war ein Fehler in den ersten Wochen nach der Pensionierung. „Da habe ich bald gemerkt, dass die Tage futsch sind.“ Also stellt sich der „geborene Langschläfer“ jetzt den Wecker morgens auf sieben Uhr, steht gegen halb acht auf – und frühstückt erst einmal ausgiebig mit seiner Frau. „Das habe ich früher vernachlässigt, habe nur schnell einen Kaffee getrunken, ein Brot gegessen und bin ins Rathaus gegangen.“

Eines hat er nicht geändert: „Ich nehme mir jeden Tag etwas vor.“ Renovieren, Holz hacken, wandern, radfahren – oder eben doch mal wieder ins Rathaus gehen, um im Auftrag der Wirtschaftsförderung am Netzwerk ins Tschechische hinein zu arbeiten. Auch so etwas, was bleibt und worauf der Bürgermeister a.D. stolz ist. Vor 15 Jahren hat Reichenbach begonnen, eine Partnerschaft mit dem nordböhmischen Ort Okrouhlá aufzubauen. In beiden Orten wurden mit EU-Mitteln die Kindergärten modernisiert. Aber das Wichtigste, sagt Böer, sind die Freundschaften zwischen den Eltern, die sich über die Jahre entwickelt haben. Auch eine Gemeinschaft. So wie die mit der westdeutschen Gemeinde Seckach in Baden-Württemberg, die er gleich nach der Wende und noch vor der Wiedervereinigung mit angebahnt hat.

Es ist schön, wenn man noch zu etwas nutze ist“, sagt Andreas Böer. Noch schöner ist es, gebraucht zu werden, ohne selbst Entscheidungen treffen zu müssen – und die Last zu tragen, die damit verbunden ist. Ganz leicht macht er sich’s zwar noch nicht. Im Kreistag sitzt er noch als ehrenamtlicher Abgeordneter und leitet den Kultur- und Sportausschuss. „Da geht’s schon nochmal richtig zur Sache.“ Aber das hat er gelernt als eines von sechs Kindern, die sich früher „immer gerauft haben, wie es sich gehört“, die sich aber bis heute alle mögen. „Und wenn wir mal ein paar Stunden alle zusammen sind, dann ist es wie früher.“ Diese Mischung aus Eigenheiten und großer, vertrauter Einigkeit. So hat er es im Pfarrhaus gelernt, so kennt und liebt er seine Stadt, in der er seinen eigenen Dickkopf durchaus ausleben kann. Ein Bürgermeister, sagt er, sollte im Idealfall ein Vermittler zwischen den verschiedensten Interessen, Ansichten und Charakteren sein und das alles ausbalancieren. „Das habe ich versucht – aber es gibt durchaus Leute, die sagen, dass genau das nicht zu meinen Stärken gehört, dass ich zu sehr mein Ding gemacht habe.“ Ja, zum Abschied seien die meisten doch ehrlich gewesen und hätten ihm nicht nur Honig ums Maul geschmiert. Aber, schiebt Andreas Böer zu seiner Ehrenrettung nach: „Ich bin noch immer der Meinung, dass man ein eigenes Profil braucht, um auch andere Meinungen auszuhalten und sich produktiv zu streiten.“ Wenn ihm etwas fehlt, dann vielleicht dies: „Manchmal könnte es etwas mehr Streitkultur geben.“ Seine Heimat war immer Reichenbach, diese kleine Welt rund um die evangelische Kirche. Aber diese kleine Welt hat ihm immer wieder die Möglichkeit geboten, auf- und auszubrechen, seinem eigenen Kopf, der Neugier und einer gewissen Frechheit zu folgen. Sie gab ihm die Chance, die krisenhaften 80er-Jahre zu überstehen und dem Leben einen völlig neuen Dreh zu geben, ohne diese kleine Welt zu verlassen. Andreas Böer erzählt von den Jahren, als im Land und in seinem eigenen Leben alles irgendwie stillzustehen schien. Viele Freunde und Bekannte verließen die Stadt, verließen die DDR in Richtung Westen. „Aber das kam für mich nie infrage. Ich dachte immer, einer muss doch am Ende das Licht ausmachen“, erzählt er und lächelt sein spitzbübisches Lächeln. Das Leben stockte, weil er nicht den Beruf hatte, den er sich gewünscht hätte. Er konnte nicht studieren, weil er aus einem Pfarrhaus stammte, zudem noch aus einem eher widerständigen Pfarrhaus. Der Job des Funkmechanikers war eine Notlösung, aber die hatte sich, wie so viele Provisorien im Leben, verstetigt. Der politische Umbruch brachte ihm 1989 die Chance zu einem ganz persönlichen Umbruch. Er machte mit beim Neuen Forum, und als 1990 die Wahl eines neuen Bürgermeisters anstand, war es nicht völlig überraschend, dass er gefragt wurde: Willst du es nicht machen? So begann beruflich die zweite Halbzeit, die erfüllte.

Das hat viel mit Menschen und Begegnungen zu tun. Da war, vor Jahren, zum Beispiel dieser Mann aus dem Westen, der eine ungewöhnliche Leidenschaft pflegte: Er sammelte Treppen. Und da war dieses baufällige Preußen-Schloss der Familie von Roon, ein Geschenk des Kaisers. Alte Treppen, altes Schloss: passt. Ein Treppenmuseum, das Einzige seiner Art; diese Idee war so schräg, dass sie dem Bürgermeister gut gefiel. Dieser Plan ist zwar geplatzt, aber das Schloss ist saniert, und heute heiraten junge Paare aus Reichenbach und Umgebung dort. Und als er die Geschichte des Auswanderers Nollau entdeckte, begeisterte sich Andreas Böer schnell dafür, ein kleines Museum einzurichten, das vom kleinen Reichenbach direkt nach Amerika führt. Es ist vor allem die „kleine“ Kirche, die die Welt für den Pfarrerssohn und damit für den ganzen Ort groß macht. Aus der Beschäftigung mit dem Kirchengründer Nollau sind etliche Kontakte in die USA entstanden, immer neue Verbindungen zwischen Amerika, der Oberlausitz und Schlesien taten sich auf: die religiöse Bewegung der Schwenckfelder, der schlesische Dichter Fédor Sommer, der Ende des 19. Jahrhunderts zwei Jahre im Lehrerseminar in Reichenbach studierte. Andreas Böer entdeckt bis heute mit großer Freude das Große im Kleinen, knüpft Kontakte und findet überhaupt nicht, dass eine kleine Stadt provinziell sein muss.

So ist im Nollau-Haus und dem Via-Regia-Begegnungszentrum seit ein paar Jahren das sächsische Migrationszentrum zu Hause, das sich seit Jahren damit befasst, wie Menschen eine neue Heimat suchen und finden, und wie das glücken kann. Schließlich ist gerade diese östliche Ecke der Oberlausitz stark von „Migranten“ geprägt, vor allem den vor 70 Jahren durchaus nicht sehr willkommenen Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen aus Schlesien. Und, daran angedockt, ist eine Koordinierungsstelle für ausländische Fachkräfte entstanden, eine kleine „Arbeitsagentur“ für heutige Einwanderer und Flüchtlinge. Seit gut einem halben Jahr ist Andreas Böer im Ruhestand und genießt dieses Stadium, ein junger Alter zu sein. Aber er hat in den letzten Jahren auch erlebt, wie mühsam bis elend die letzte Strecke auch eines erfüllten und lange Zeit gesunden Lebens sein kann. Hat erlebt, wie ein Onkel, immer hellwach und mobil, abgebaut hat und wie eine Tante sich in der Alzheimerwolke selbst verloren hat. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich irgendwann vielleicht nicht mehr so bewegen kann, wie ich will, dann geht mir das schon manchmal nahe. Es fällt mir schwer, längere Zeit stillzusitzen.“

Das Altern an sich schreckt ihn nicht. Nicht mehr stundenlang Holz hacken, sondern nur noch eine – na und? Nicht mehr jeden Berg hinaufwandern, sondern eher die flachen – na und? Und wenn die Gattin mit dem Herzen aufpassen muss und beide beim Radfahren ein bisschen Schub vom Elektromotor mitnehmen – na und? Dafür gibt es diese herrlichen, richtigen Rentnertage. Zum Beispiel neulich: Stundenlang mit den Enkeln im Hallenbad herumplanschen, bis alle richtig platt sind. „Ich am allermeisten.“ Und wenn er dann in „seine“ Kirche schaut und sieht, dass die Restaurierung des Kleinods auch ohne sein Zutun voranschreitet, dann ist das ein gutes Gefühl.