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Der Schäfer der Frauenkirche

Seit über 60 Jahren ist Dieter Schlafke Hirte – und dank eines historischen Fotos ein bisschen berühmt. Früher hat er in Dresden Geschichten von Kriegsopfern gehört. Heute genügt ihm das „Mäh“ seiner Schafe.

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© SLUB Deutsche Fotothek, dpa/Sebastian Kahnert

Simona Block

Ralbitz-Rosenthal. „Mäh, mäh, mäh“. Dutzende Schafe grasen friedlich auf der Weide am alten Klosterhof im Dorf Schönau mitten in der sorbischen Lausitz. Auf sattem Grün stehen weiße und braune Mutterschafe, Lämmchen wuseln um sie herum – weiß und schwarz. Dieter Schlafke schaut zufrieden zu, auf seinen Hirtenstab gestützt, in der typischen Schäfermontur. „Für mich gibt es nichts anderes“, sagt der 82-Jährige. „Meine Schafe sind mein Leben.“

Zwei Border Collies begleiten Schlafke beim Gang über die Weide.
Zwei Border Collies begleiten Schlafke beim Gang über die Weide. © dpa/Sebastian Kahnert
Die typische Schäfermontur gehört für Schlafke auch im hohen Alter noch dazu.
Die typische Schäfermontur gehört für Schlafke auch im hohen Alter noch dazu. © dpa/Sebastian Kahnert

Seit über 60 Jahren ist der Mann mit dem gegerbten, sonnengebräunten Gesicht und den wachen grünen Augen Schäfer: immer an der frischen Luft und in Bewegung. „Mit der Natur verbunden, ein wenig Freiheit ist auch dabei“, beschreibt er die Vorzüge. „Mir hat fast das ganze Leben niemand was vorgeschrieben.“ Das „Mäh“ der Schafe und Bellen der Hütehunde sind sein Sound. Auch wenn ihn die Zipperlein des Alters gerade zum Pausieren zwingen, zieht es ihn dennoch jeden Tag auf die Weide. Fleißig wirkt er – und bescheiden.

Um die Herde, gut 200 Mutterschafe und Lämmer, kümmert sich sein Sohn. Seit 1915 sind die Schlafkes Schäfer, vom Großvater über Vater und Onkel bis zu Dieter Schlafke und dessen Bruder. „Mein Vater war ab 1929 in der Schäferei“, erzählt Schlafke senior. „Und ist bei den Schafen gestorben, 1985.“ Elf Jahre später wird sein Bruder vom Blitz erschlagen, auf der Weide - ein Schock.

Dieter Schlafke war 1950 von der Schule in den Familienbetrieb in Rennersdorf bei Löbau in die Lehre gewechselt. „Das Angebot war ja nicht so wie heute, ich war ein Durchschnittsschüler mit Tendenz von drei bis drei minus.“ Wegen des Krieges war auch nach acht Jahren Schule Schluss. „In Zeichnen war ich Klassenbester“, sagt der 81-Jährige. Eine Karriere als Künstler? Kein Thema.

Noch während der Ausbildung geht Schlafke 1953 in einen großen Landwirtschaftsbetrieb nach Dresden. Kurze Zeit später wird er dort unbemerkt zu einer Berühmtheit, als „Schäfer der Frauenkirche“. Ein Profifotograf machte ein Bild, als der junge Hirte seine Schafe auf der Wiese vor der Ruine des 1945 zerstörten Gotteshauses weidet. „Das Gras war dort am saftigsten“, sagt Schlafke. Das Bild zierte viele Publikationen über Dresden, Sachsen und die DDR, das „Model“ ahnte davon lange nichts.

Schlafke trieb seine Schäfchen weiter quer durch die Innenstadt, von den Elbwiesen bis vor Rathaus, Hygiene-Museum oder eben Kirchenruine. Dort war er auch ein bisschen Seelsorger, hörte sich die Geschichten von Kriegsheimkehrern, Flüchtlingen oder Trümmerfrauen an. „Einmal hat mich ein Professor angesprochen, dabei mag ich das Gequatsche gar nicht.“ Als frommer Christ hört er dennoch geduldig zu, obwohl er lieber seine Ruhe hätte.

1961 kehrt er zurück aufs Land, es verschlägt ihn in die Lausitz. „Ich wollte ein Familie gründen, in Dresden war keine Wohnung zu finden“, erzählt er. In Uhyst findet er ein Heim und einen Job als Schäfer, bis der Betrieb samt Tieren in den Westen verkauft wird – nach der Wiedervereinigung. Schlafke zieht erneut eine Herde auf, diesmal seine eigene.

Anfangs wird das vom Staat gefördert, heute bekommen nur noch Eigentümer und Pächter von Land Geld. „Diese Lücke muss geschlossen werden“, mahnt Schlafke, der zu denen gehört, die nach Abschaffung der Weidetierprämie als Nutzer von Land seit Jahren leer ausgehen. 365 Tage Arbeit, da müsse am Ende eine Kleinigkeit übrigblieben. Die Schäferei in Deutschland werde immer weniger, da Wolle und Fleisch nicht mehr viel einbringen.

„Aber die Landschaftspflege, die Schafe machen, die ist doch wichtig und vor allem ganz ökologisch“, meint der Senior. Mit seinem Sohn wird die Familientradition aussterben, in der vierten Generation. Der Enkel hat schon Anderes gelernt: Koch. „Wer will noch 365 Tage arbeiten, kaum Urlaub oder Freizeit.“ Schäfer sei ein Fulltime-Job, für ihn war das nie ein Problem.

„Mein Leben ist erfüllt“, sagt der 82-Jährige. Strapazen und erzwungene Neuanfänge hat er mit Geduld, Ausdauer und körperlicher Härte gemeistert. Und Stehvermögen. „Gemütlich im Gras liegen, das geht höchstens für ein Mittagspäuschen“, sagt er lachend. „Sitzen tut nicht gut, das Erdreich ist immer kalt.“ Das Schönste aber sei die Ruhe, bekennt der Schäfer aus Leidenschaft. „So lange ich gehen kann, zieht es mich zu den Schafen. Sie sind mein Lebenselixier, das sagen auch meine Ärzte.“ (dpa)