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Der giftige Freund

Freya konsumiert Crystal Meth. Sie hört nicht auf, als sie schwanger ist. Über eine Frau und ihren Kampf um ihr Kind und gegen Crystal.

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© Ronald Bonß

Von Christina Wittich

Du bist eine schlechte Mutter“, raunt die Stimme in ihrem Kopf. „Spring!“, ruft das Kind. „Du hättest den Tod verdient“, wispert die Stimme. „Weiter!“, ruft das Kind und dann hüpft es vorneweg. Von einem Brett auf breiten Federn zum nächsten. An einem sonnigen Tag auf dem Spielplatz. Vier Jahre, zierlich, brünett, braune Augen. Das feine Haar flattert im Wind, mit jedem Schritt blinkern punktgroße Lämpchen an ihren Turnschuhen. Sie lacht. Die Mutter springt hinterher. Ernsthafte, kurze Hopser. „Vorsicht, nicht fallen“, ruft sie. Katharina, das Kind, könnte Schaden nehmen.

Sie muss jetzt aufpassen. Freya, die nicht Freya heißt, weil sie nicht erkannt werden möchte, hat Schaden angerichtet. Das weiß sie, das sagen ihr die Stimmen jeden Tag. Sie hat geraucht und Crystal konsumiert während der Schwangerschaft.

In ihrem Kopf hallt es seitdem, sie reden durcheinander: die Oma, die Mutter, der Ex, der Kindsvater, Menschen, die ihr Leben gestreift haben. Als würden sie ihr ständig über die Schulter schauen. Als würden sie jeden Schritt beobachten und nur das Schlechte sehen. Jetzt flüstern sie.

Früher haben sie gebrüllt. Damals, als sie Crystal konsumiert hat, „geruppt“, wie sie das sagen, wenn sie unter sich sind. Wenn sie den Stoff fein säuberlich mit der Gesundheitskarte gehackt, zu einer schmalen, schmutzigweißen Linie auf dem Spiegel gezogen und inhaliert haben. Gewartet haben sie dann auf die gute Laune, das Labern, auf die Energie, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, nicht hungrig, nicht müde, nicht Niemand, nicht traurig, nicht unbeliebt, erfolglos und schüchtern.

Auf einmal ist sie schön, die Bude, in der sie da hocken, Musik hören und quatschen, die nach verschüttetem Bier und abgestandenem Zigarettenqualm stinkt, weil sie es trotz aller Rastlosigkeit nicht schaffen, abzuwaschen, aufzuräumen oder wenigstens zu lüften. Alles ist wichtiger und nichts.

In Sachsen haben 70 Prozent aller Klienten der sächsischen Suchtberatung Probleme mit der Droge Crystal. Bundesweit sind es 16 Prozent. Knapp 5 000 Crystalkonsumenten zählt der Suchtbericht 2015 der Sächsischen Suchtkrankenhilfe. Die Dunkelziffer liegt vermutlich um einiges höher. Rund ein Drittel der Konsumenten sind Frauen. Mit ihrer wachsenden Zahl steigt auch die Zahl der unter Crystal-Einfluss gezeugten und geborenen Babys. Im vergangenen Jahr waren es knapp 200.

Vor allem in Tschechien befinden sich die Küchen für den chemischen Cocktail, der am Ende Crystal Meth ergibt. Wie auf einer Ameisenstraße wandert es im Gepäck deutscher Grenzgänger nach Sachsen. Crystal macht vor allem psychisch abhängig. Das gute Gefühl stört die Hirnchemie nachhaltig. Die Person, die angefangen hat, Crystal zu konsumieren, hat am Ende nur noch wenig gemein mit der Person, die damit aufhört.

Freya, bevor Crystal zu ihrem Begleiter wurde: „Ein fröhliches Kind, ein bisschen introvertiert“, sagt ihre Mutter. „Ich war immer traurig“, sagt die Tochter. „Die Sanftmut in Person“, sagt die Mutter. Crystal, das sind die anderen. Dachte sie immer.

Es ist Abend und die 28-jährige Freya sitzt auf ihrem Balkon und raucht Selbstgedrehte. Katharina schläft hinter heruntergelassenen Jalousien. Ein rosa Laufrad steht an der Wand, ein rosa Roller daneben. Freya mag Mittelalterrock und Schwarz. Früher hat sie Gedichte geschrieben, düster und traurig über das Leben und die Suche nach Liebe und einem Sinn.

Sie trägt eine Kette mit Kruzifix, schwarzen Rock und schwarzes Top. Ihre braunen Haare sind kinnlang. Die braunen Augen groß wie die ihrer Tochter – hier aber abwartend. Wenn sie spricht, zieht sie die Wangen ein, als würde sie auf deren Innenseite kauen. Freya nuschelt manchmal. Wenn sie schnell redet, holpern ihre Sätze. Hin und wieder verliert sie den Anschluss. Sorgfältig streift die junge Frau die Asche ihrer Zigarette ab. Sie raucht langsam. Sie wirkt einsam.

Freya wächst auf in der Nähe von Leipzig mit einem jüngeren Bruder, zwei Großmüttern und einer Mutter. Der Vater „ist ein Schlappschwanz. Der hat sich einfach vom Acker gemacht“, sagt sie rückblickend. Das Mädchen fällt durchs Abitur, weil sie in Mathe nicht die ausreichende Punktzahl schafft. Ihre Jugendliebe verlässt sie. Das sind Krisen, die andere ohne Drogen überstehen. Freya aber kämpft mit sich, hungert, trinkt Alkohol, bis sie im Nebel versinkt.

Sie beginnt eine Lehre zur Physiotherapeutin in Meißen, die sie nie beenden wird. Mit 19, da muss sie ihre Mutter besucht haben, so genau kann sich Freya nicht mehr erinnern, da lernt sie Crystal kennen. Sie liebt es. „Mit Crystal war das Leben einfach schön“, sagt sie. „Ich hab mich fröhlich gefühlt, wo ich vorher traurig war.“ Die Droge ist wie ein giftiger Freund, der Hilfe verspricht und am Ende das Chaos bringt. Von ihrer Familie entfremdet sie sich, wird feindselig. „Ich dachte, das hängt mit der Abnabelung zusammen“, sagt ihre Mutter.

Schon seit Jahren ist Crystal in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es gibt nicht den einen Crystal-Konsumenten. Menschen konsumieren, weil sie feiern wollen, arbeiten oder abnehmen. Die Droge aber richtet einen gesellschaftlichen Schaden an, der weit über ein paar Ekzeme und ausgefallene Zähne hinausgeht. Sie macht langfristig dement. Sie nimmt die Fähigkeit zur Empathie. Sie setzt Hemmschwellen herab. Sie führt zu Schwangerschaften, die nicht geplant sind und ihre Erinnerung, das Verlangen nach ihr nistet sich ein in den Hirnen Ungeborener.

Freya hat konsumiert während der Schwangerschaft. Sie versucht nicht, sich zu verteidigen. Niemand hat sie gezwungen. „Ich kam da einfach nicht raus“, sagt sie und hält sich an ihrer Teetasse fest. Als sie feststellt, dass sie schwanger ist, versucht sie gerade, sich zu trennen von einem Mann, mit dem sie damals täglich konsumiert. Beider Leben, beider Paranoia, dreht sich um die Droge.

Manchmal schubst er sie im Streit gegen die Schrankwand. Manchmal fasst er sie an, wenn sie nicht möchte. Manchmal rastet er aus, weil sie allein ein Bad nehmen will. Sie verlässt ihn, aber nicht das Crystal: „Ich hab‘ weiter gemacht, weil ich süchtig war, weil ich dumm und dämlich war und nicht die Kraft hatte aufzuhören.“ Es sei ihr nie egal gewesen, was mit dem Kind passiert. „Jedes Mal, wenn ich was genommen habe und jedes Mal, wenn ich zum Arzt gegangen bin, hatte ich Angst, dass da was ist.“

Die Schwangerschaft verläuft ohne Komplikationen, sagt Freya. Ihrer Mutter erzählt sie, dass sie aufgehört hat mit den Drogen. Offiziell raucht sie nur noch. Gegen Ende der Schwangerschaft begleitet die Mutter sie zur Frauenärztin. Die warnt: „Ihre Plazenta ist schon total durchlöchert. Lassen Sie das Rauchen doch sein.“ Nie, sagt Freya, hätte sie jemand direkt angesprochen auf einen möglichen Konsum. „Niemand hat mir gesagt, dass ich das doch mal lassen soll.“ Nicht die Freunde, die ihr weiter Stoff verkaufen, nicht ihre Familie, nicht ihre Ärztin. In der 35. Woche kommt Katharina zur Welt. Zu früh, zu leicht, nervös, ein Schreikind.

Die Zahl der Kinder crystalabhängiger Mütter ist rapide steigend – allerdings auch, weil Ärzte eine Weile gebraucht haben, bis sie Abhängige aufmerksamer registrierten. Im April schlug Jürgen Dinger deswegen Alarm. Dinger ist Kinderarzt und Neonatologe am Dresdner Universitätsklinikum. Im Regierungsbezirk Dresden, sagt er, ist die Zahl der bereits im Mutterleib der Droge ausgesetzten Neugeborenen um 1 000 Prozent gestiegen. Im Bezirk Chemnitz um etwa 400 Prozent, in Leipzig sind es 800 Prozent. Auch hier gibt es eine deutlich höhere Dunkelziffer.

Es gibt keine eindeutigen Symptome. Meistens leidet das Baby nicht nur unter dem Crystal-Konsum der Mutter, sondern auch dem Rauchen, dem Kiffen, dem Trinken. Es hat zu wenig Sauerstoff bekommen im Mutterleib, vielleicht dort schon leichte Schlaganfälle erlitten. Manche Kinder zeigen gar keine Symptome. Manche zittern, schreien, können nicht trinken oder trinken, als würden sie verdursten. Viele sind zu leicht, haben einen kleineren Kopfumfang als der Durchschnitt. Was diesen Kindern die Zukunft bringt, kann Dinger nicht sagen. Im schlimmsten Fall sieht er wenigstens zehn Schulklassen mit Kindern, die sich nicht konzentrieren können, die Schwierigkeiten haben zu lernen, die schlecht gewappnet sind für ein Leben, das auch Krisen mit sich bringt.

Die Mütter verurteilt er nicht. „Die Frauen sind suchtkrank“, sagt der Arzt. „Wir haben nichts davon, sie in eine Ecke zu drängen und mit dem Finger auf sie zu zeigen.“ Er will helfen. Ein Zentrum soll an der Uniklinik entstehen, das Frauen wie Freya auffängt, bevor ein Kind entsteht, an dem Schwangerschaft, Entzug und Therapie begleitet werden. Mutter und Kind in guten Händen. Das Zentrum soll Schule machen für weitere Zentren in allen sächsischen Großstädten. Bisher ist es nur die Idee zu einem Mittel, der Droge zu begegnen. „Bis es entsteht, brauchen wir noch einen langen Atem“, sagt Jürgen Dinger.

Freya gibt ihr Kind weg, als es sieben Monate alt ist. Das Baby fordert viel von ihr. Freya konsumiert viel und schläft wenig. Der Haushalt wächst ihr über den Kopf. Sie liebt ihre Tochter und fühlt sich der Verantwortung nicht gewachsen. Die Stimmen in ihrem Kopf machen sie fertig. Also füttert sie Katharina den letzten Brei, setzt sie in ihren Maxi Cosi und gibt sie ab beim Jugendamt.

Ihre Mutter schaltet sich ein. Lange, sagt sie, habe sie gedacht, das Kind kann ihrer Tochter von der Droge weg helfen: „Wenn ich die Kleine nehme, dachte ich immer, dann versinkt Freya ganz in dem Sumpf.“ Zuerst will Freya nicht, dass ihre Tochter zur Oma kommt. Die ist verletzt und kämpft. Sie denkt und spricht nie aus: „Ich heb sie auf für dich, und du holst sie dir wieder, wenn alles gut ist.“

Freya versinkt weiter. Irgendwann schluckt sie Tabletten, trinkt Alkohol, will sterben – und wacht doch wieder auf. Irgendetwas in ihr will, dass es weiter geht. Nach mehreren Anläufen schafft sie eine Entgiftung, beginnt eine Therapie. Katharina lebt in dieser Zeit bei der Großmutter. Über einen Anwalt erkämpft sich Freya, dass ihr Kind schon während der Therapie wieder zu ihr darf.

Danach ziehen sie gemeinsam nach Dresden. Bei den Radebeuler Sozialprojekten lernen sie, eine Familie zu sein. Seit 2004 bietet die Einrichtung Familienhilfe für Suchtkranke an. In sogenannten cleanen Häusern leben die jungen Erwachsenen in Wohngemeinschaften oder eigenen Wohnungen. Sozialarbeiter helfen ihnen, den Alltag zu strukturieren, bringen ihnen bei, mit ihren Kindern zu spielen, für sie zu kochen. Therapien begleiten das Programm und immer wieder Drogentests.

Freya ist unsicher zu Beginn. „Sie hat viel gefragt, was sie mit dem Kind machen darf, was nicht. Wo sie Grenzen setzen darf“, sagt ihre damalige Betreuerin. Die lernt eine schüchterne Frau kennen, die Haare raspelkurz. Ihre Klientin wollte unbedingt lernen, ihrem Kind nahe zu sein. Sie wollte Zeit aufholen. Ein Jahr lang lebt sie im cleanen Haus. „Sie blühte regelrecht auf“, sagt die Sozialarbeiterin, dann sucht sie eine eigene Wohnung für sich und ihre Tochter in Dresden.

Bunte Kinderzeichnungen hängen dort an den Wänden, Fotos von Katharina, Bastelarbeiten auf dem Wohnzimmerschrank. Penibel aufgeräumt sind die Zimmer im Neubau. Sie macht ein berufsvorbereitendes Jahr jetzt, sagt Freya. Im Büro möchte sie später einmal arbeiten. Katharina soll ein normales Leben führen, eine glückliche Kindheit haben mit regelmäßigen Wochenenden bei der Oma.

Bis jetzt, so meint Freya, ist Katharina wie alle anderen ihres Alters. Sie weiß nichts von den Drogen und dem Kampf ihrer Mutter. „Aber ich habe Angst, dass sie eines Tages alles erfährt und mir dann böse ist“, sagt Freya.