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Der ausgeladene Sachse

Leckermäulchen-Erfinder Jürgen Clauß sollte vor der deutschen Milchlobby einen Vortrag halten. Doch dazu kam es nicht.

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© kairospress

Von Ulrich Wolf

Es wäre fast so etwas wie eine Wiedergutmachung gewesen. Einen Vortrag sollte Jürgen Clauß halten. Über die Geschichte der DDR-Quarkspeise Leckermäulchen. „Über meine Erfindung“, betont der gebürtige Nossener. Und das vor quasi allen, die was zu sagen haben in der Milchwirtschaft.

Seit Donnerstag trifft sich die Branche zum 25. Oranienburger Milchforum in der 45 000-Einwohner-Stadt nördlich von Berlin. Gastgeber im Viersternehaus „Stadthotel Oranienburg“ ist die milchwirtschaftliche Lehr- und Untersuchungsanstalt. Zu den Mitgliedern der als Verein organisierten Anstalt zählen Landesbauernverbände, Landwirtschaftsministerien und Lobbyverbände der Milchindustrie.

„Vor diesen Leuten zu sprechen, wäre mir eine hohe Ehre gewesen“, sagt Clauß. Zumal es ein Wiedersehen gegeben hätte mit jenem Ort, an dem er 20 Jahre lang gearbeitet und geforscht hat. „Von 1970 bis 1990 war ich als Lebensmitteltechnologe in dem Oranienburger Institut“, erzählt Clauß. Er machte dort sogar seinen Doktortitel über die „Entwicklung eines Verfahrens zur Herstellung von geschäumten Speisequarkzubereitungen“.

An seiner alten Wirkungsstätte hätte der 73-Jährige erzählen können, wie die Geschichte von Leckermäulchen 1974 mit einer Zitronencremetorte begann. Wie ihn ein damaliger Freund aufforderte, „doch mal so eine Creme als Quark“ zu erfinden. Wie er mit Vanille als Fruchtersatz im Oranienburger Labor experimentierte, Quark mit geschlagener Sahne mischte und mit Luft aufschäumte. Wie eine Kellnerin den Namen Leckermäulchen erfand. Wie dank der ersten DDR-Schlagsahnemaschine seine Rezeptur Einzug fand in das Milchwerk Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Wie Leckermäulchen von dort aus zu einem überaus gefragten Produkt im Osten wurde.

Wer hat‘s erfunden?

Hätte, hätte, Fahrradkette. Nachdem Clauß Mitte September zusagte, erhielt er einen Monat später eine Mail vom Oranienburger Institutschef Michael Behr. Darin heißt es: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich nach massiver Intervention seitens unserer Mitgliederversammlung und eines großen milchwirtschaftlich berufsständigen Verbandes meine Anfrage hinsichtlich eines Vortrages Ihrerseits im Rahmen des diesjährigen Oranienburger Milchforums zurückziehen muss.“

In diesem Satz steckt Brisanz. Man muss wissen: Nach der Wende erwarb der niedersächsische Frischli-Konzern die Molkerei in Weißenfels, zog Leckermäulchen vorerst aus dem Verkehr. Erst Mitte der 1990er-Jahre kam die Süßspeise wieder in die Regale. Im März 1996 ließ sich Frischli die Wort- und Bildmarke Leckermäulchen unter der Registernummer 39613363 beim Deutschen Patent- und Markenamt in München schützen. Clauß, damals ohne Job, hatte das seinerzeit versäumt.

Die Markenrechte an Leckermäulchen dürften heute eine Menge Geld wert sein. Immerhin produziert Frischli davon inzwischen rund 80 Millionen Becher jährlich. Doch in der Chronik des Familienkonzerns taucht der vermeintliche Erfinder Clauß nicht einmal auf. Ihm gehe es gar nicht um das verpasste Geld, das Frischli mit seiner Erfindung nun verdiene, sagt der Rentner. „Mir geht es um die Anerkennung meiner Lebensleistung.“ Der geplante Vortrag in Oranienburg etwa, der hätte dazugehört. Doch dagegen hatten Vereinsmitglieder der Versuchsanstalt ja „massiv“ interveniert. Etwa der Milchindustrieverband?

Dessen stellvertretender Vorstandsvorsitzender ist Hans Holtorf. Dieser Mann ist zudem Mitglied der Geschäftsführung sowie Anteilseigner beim Frischli-Konzern. Fürchtet dieser in der Milchbranche einflussreiche Manager, der gemeinsam mit seinen beiden Chefkollegen bei Frischli im Geschäftsjahr 2015/16 rund 850 000 Euro verdiente, einen Rentner aus Sachsen wegen der Leckermäulchen-Historie so sehr, dass dieser auf einem zweitägigen Symposium nicht sprechen darf?

„Psychotolerante Sporenbildner“

Ein Sprecher des Milchindustrieverbands betont, man habe an dieser Geschichte keine Aktie. Frischli antwortet nicht. Früher äußerte sich der Marketingchef des Unternehmens zur Causa Clauß lediglich so: „Wir erkennen an, dass er in einer Arbeitsgruppe mitgearbeitet hat, die Leckermäulchen erfunden hat, mehr aber nicht.“ Clauß hält dagegen: „Wenn man die Idee hat, die Laborversuche macht, die Überführung in die Produktion und noch den Namen mitbringt, dann kann man davon ausgehen, dass ich es auch erfunden habe.“

Dem heutigen Institutsleiter in Oranienburg indes ist die Ausladung von Clauß „oberpeinlich“. Michael Behr sagt, die Intervention der Mitglieder habe sich auf die von ihm geplante inhaltliche Ausrichtung bezogen.

„Weil wir mit unserem Milchforum das 25. Jubiläum feiern, wollte ich die Veranstaltung auflockern, weniger fachlich aufziehen.“ Die Mitglieder aber seien dagegen gewesen. „Herr Clauß hat daher in das neue Programm ebenso wenig reingepasst wie zwei andere Referenten, denen ich ebenfalls absagen musste.“

Statt des Sachsen hält nun an diesem Freitagvormittag eine Forscherin vom Lehrstuhl für mikrobielle Ökologie der Technischen Universität München einen Vortrag. Ihr Thema lautet: „Psychotolerante Sporenbildner als Verderbserreger in ESL-Milch – Zusammenhang zwischen Rohmilch und Endproduktqualität“.

Und Clauß? Der soll trotzdem nach Oranienburg kommen. Als Gastreferent im nächsten Jahr. Zu einer „Zusammenkunft der Vertreter der milchwirtschaftlich agierenden Tierärzte“.