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Das Trauma des doppelten Überfalls

Am 75. Jahrestag des Kriegsausbruchs gibt es für Polen noch offene Wunden. Bis heute warten sie auf ein russisches Eingeständnis der Mitschuld.

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Von Paul Flückiger, SZ-Korrespondent in Warschau

Gdansk.Noch immer streiten viele Polen über Nebensächlichkeiten in diesem Krieg, der das Antlitz des gerade erst wiedergeborenen Staates radikal verändern sollte. Eingebürgert hat sich die Sicht, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September morgens um 4.45 Uhr mit dem Beschuss des polnischen Munitionsdepots auf der Danzig vorgelagerten Halbinsel Westerplatte begann. Die Schüsse kamen ausgerechnet von dem sich auf Freundschaftsbesuch befindenden deutschen Schulschiff „Schleswig-Holstein“. Die polnische Bewachungsmannschaft, rund 200 Mann, verteidigte sich trotz der militärisch völlig aussichtslosen Lage sieben Tage lang. Romantischer Heldenmut und Opfermythos werden seitdem in polnischen Memoiren, Erzählungen und Verfilmungen einzelner Kriegsabschnitte immer wieder angerufen.

Vor ein paar Jahren jedoch hat das Warschauer Militärarchiv Dokumente veröffentlicht, die einen weit weniger verklärten Kriegsbeginn zeigen. Begonnen hat demnach Hitlers Überfall auf Polen Minuten früher mit der Massenbombardierung der militärisch bedeutungslosen südpolnischen Stadt Wielun. Rund 1 200 Zivilisten wurden dabei im Schlaf ermordet, hoch technisiert, und die Polen hatten weder eine Chance auf mutige Gegenwehr noch auf romantisch verklärten Widerstand.

Viel wichtiger wurde in den letzten 25  Jahren in Polen jedoch das Wesen des doppelten Überfalls. Da ist der 1. September 1939, als Hitlers Armeen von Westen her auf Warschau und weiter östlich bis zum Bug marschierten. Und da ist der sowjetische Einmarsch vom 17. September. Dieser Zangenangriff wird in der westlichen Kriegswahrnehmung oft ausgeblendet, im polnischen Bewusstsein hat er indes tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute in Politik und Gesellschaft nachwirken.

Den sowjetischen Angriff auf Polen von Osten her hatten Hitler und Stalin am 23.  August 1939 in einem Geheimprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt vereinbart. Anlass für den sowjetischen Überfall war der angebliche Schutz von Russen, Weißrussen und Ukrainern in den polnischen Ostgebieten. Polen wurde so zwischen den beiden Großmächten zermalmt.

Während die Polen von deutschen Politikern häufige Schuldbekenntnisse und Entschuldigungen vernehmen, fehlen die von russischer Seite ganz. Als Konstante der polnischen Politik bleibt bis heute der aus dem Kriegstrauma des Geheimpakts zwischen Hitler und Stalin entstandene Verdacht, Großmächte könnten erneut über die Köpfe der Polen hinweg entscheiden. So werden die deutsch-französischen Vermittlungsbemühungen im Ukraine-Konflikt ohne Einbezug Polens genauso kritisiert wie die Ostseepipeline zwischen Russland und Deutschland.