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Das Mädchen mit dem Gummiball

Demas ist drei Jahre alt und mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland geflohen. Sie wurde zum Gesicht des Heidenauer Willkommensfestes. Nun erzählen die Eltern ihre Geschichte.

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© Robert Michael

Von Christoph Farkas

Ein Mädchen steht vor einem Berg von Sachspenden, das Gesicht ein einziges Lachen unter wuschligen Haaren. Ein kleines Gesicht voll Freude am Moment, an den Gummitieren, an dem Ball in ihren kleinen Händen.

Demas und ihre Familie auf einer Heidenauer Wiese: Am 1. Oktober wird über ihre Zukunft entschieden.
Demas und ihre Familie auf einer Heidenauer Wiese: Am 1. Oktober wird über ihre Zukunft entschieden. © Robert Michael
Unsere Kinder haben auf der Flucht nicht sprechen gelernt, aber kämpfen, sagt Dema’s Mutter.
Unsere Kinder haben auf der Flucht nicht sprechen gelernt, aber kämpfen, sagt Dema’s Mutter. © Robert Michael

Das Bild des Fotografen Robert Michael, aufgenommen vor einem Monat auf dem Willkommensfest in Heidenau, erschien in der Zeitung und verbreitete sich schnell im Internet. Hundertfach wurde es auf Facebook geteilt und kommentiert, mehr als 6 500 Menschen klickten auf der SZ-Facebookseite „gefällt mir“. Viele wollten wissen, wer das strahlende Kind ist.

An einem Freitagnachmittag steht Demas mit ihrer Familie auf einer Wiese neben dem Camp in Heidenau. Ein Mädchen, das kleinste von vier Kindern, drei Jahre alt, zwei lustige Zöpfe, ein orangefarbener Strickpulli. Wenn sie rennt, sieht es aus, als wäre jeder Schritt der letzte vorm Umfallen, jeder neue ein Wunder. Die Knopfaugen, immer weit geöffnet, blicken auf die Welt, als würden sie alles zum ersten Mal sehen. Dabei sehen sie nur Baracken, die bunten Autos auf der Straße und den Hammer-Baumarkt. Die Eltern erzählen ihre Geschichte.

Als Demas geboren wird, tobt schon seit einem Jahr der Bürgerkrieg in Syrien. Sie lebt mit ihren Eltern, ihrem Bruder und zwei Schwestern in einem Haus in Raqqa, einer jungen Stadt am Euphrat in der Mitte des Landes. Vor dem Bürgerkrieg ist Raqqa etwa halb so groß wie Dresden. Als die Kämpfe beginnen, flüchten Hunderttausende in die Stadt. Bald leben fast eine Million Syrer in der Provinzhauptstadt. Noch eine Weile bleibt es friedlich, bis islamistische Kämpfer die Stadt im Frühling 2013 angreifen und erobern. Im Sommer übernimmt der Islamische Staat die Kontrolle. Raqqa wird zum syrischen Hauptsitz der Terrorgruppe. Während Demas laufen und sprechen lernt, werden in Raqqa Menschen auf dem Marktplatz gekreuzigt. Auf einer Verkehrsinsel spießen die Terroristen Köpfe von Ermordeten auf Pfähle. Die Stadt wird bombardiert und beschossen, von Assads Armee, von Rebellen, von Amerikanern. Ständig sterben Zivilisten.

Bevor Demas geboren wurde, vor dem Krieg, hatte die Familie ein gutes Leben. Vater Muhammad vermietete Autos, seine Frau Amina war Klavierlehrerin. Mustafa, Simav und Hiva kamen zur Welt, bildschöne Kinder, heute sieben, sechs und vier Jahre alt. Syrien war ein aufstrebendes Land. Sie konnten als Kurden friedlich leben.

Jetzt, im Krieg und Terror, quälen die Eltern immer neue Fragen. Sie wollen raus aus dem Krieg, ja, aber die Heimat verlassen, das Haus, die Verwandten? Kann es je eine Rückkehr in das alte Leben geben? Würden die Kinder eine Flucht überleben? Reicht das Gesparte überhaupt dafür? Sie fliehen ein erstes Mal, innerhalb Syriens, in das Dorf Tall Abyad im Norden. Auch dort wird bald gekämpft, also kehren sie nach Raqqa zurück. Es ist kaum mehr auszuhalten. Bei einem Luftangriff wird das Wasserwerk zerstört, Strom gibt es nicht mehr. Die Bomben, die den IS treffen sollen, schlagen in der Nachbarschaft ein.

Eines Tages klopft es an der Tür. Da steht ein Terrorist und sagt: Ihr seid tot, Kurden, wenn ihr in drei Tagen noch in Raqqa seid. Der Islamische Staat meint, alle Kurden würden mit Kreuzfahrern und westlichen Staaten kooperieren, gegen das Kalifat IS. Was will man dazu sagen? Den ganzen Tag schmettert die Drohung aus den Lautsprechern der Moscheen. So erinnert sich der Vater.

Keine Fragen mehr. Die Familie verkauft das Haus, Muhammad leiht sich Geld von einem Freund, und sie brechen zu Fuß auf Richtung Norden. Es ist Ende Juni. Sieben Tage schleichen sie durch syrische Wälder. Die Kinder abwechselnd Huckepack, versuchen sie, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Zwischen kurdische Truppen und Terroristen des Islamischen Staates. Sie erreichen die türkische Grenze, werden von Schleppern ans Meer gebracht.

45 Menschen auf einem alten Schlauchboot, der Kapitän ist 16 und soll sie auf die griechische Insel Kos bringen. Es gelingt. Viele Syrer sterben auf diesem Weg, auf den kurzen Strecken übers Mittelmeer. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt, dem Jungen, so alt wie Demas, der vor einem Monat tot an einen türkischen Strand gespült wurde. Auch der Bruder und die Mutter des Jungen starben.

Die nächsten Tage und Wochen fliehen Demas und ihre Familie wie in Trance durch Europa. Chaos auf Kos, Hitze in Athen, Züge in Mazedonien und Serbien, in denen das kleine Mädchen fast erdrückt wird. Ungarn, das Schlimmste. Schlepper, die einfach verschwinden, Irrläufe durch den Wald, die Sachen feucht vom Regen. Die Kinder sind krank und laufen wie Zombies – vorwärts, nur vorwärts. Ungarische Polizisten greifen die Gruppe auf, mit der sie unterwegs sind, schlagen junge Männer, verhaften sie. Demas’ Familie darf weiterlaufen.

Man kann die psychischen Folgen so einer Flucht kaum erahnen. Auch nicht Hunger und Durst, die Enge, den Dreck, die prügelnden Polizisten. Die Kinder, sagt Demas Mutter heute, haben auf der Flucht nicht sprechen gelernt, aber kämpfen. Sie haben sich ihrer Umwelt angepasst.

Die Familie erreicht Budapest und gibt ihr letztes Geld einem Schlepper, der sie mit dem Auto nach Deutschland bringt. Der Preis für die Flucht einer sechsköpfigen Familie: 11 000 Euro. Eigentlich wollten sie nach Malmö zu Verwandten, doch ihr Geld ist alle und ihre Kraft, als sie an der Autobahn in der Nähe von Regensburg abgesetzt werden – 45 Tage, nachdem sie ihr Haus in Raqqa verlassen haben.

Wären sie nur wenig später aufgebrochen, vielleicht würden Demas und ihre Familie heute vor einem ungarischen Zaun stehen und nicht wissen, wie weiter. So aber wird die Familie an der Autobahn von der Bundespolizei aufgelesen und nach Regensburg gebracht, später nach Passau, wieder nach Regensburg, nach Chemnitz und schließlich, am Abend des 21. August, nach Heidenau in das neu eröffnete Camp im leeren Praktiker-Baumarkt.

Von den Krawallen dieser Nacht sehen sie nichts, sie erinnern sich nur an die tanzenden blauen Lichter der Polizeiautos. Das Leben im Baumarkt: Sicherheitsscheiben, durch die man nicht nach draußen schauen kann, Industrielichter, Konflikte mit Afghanen, dreckige Klos, Gerüchte über Tuberkulose. 6 bis 8 Uhr Frühstück, 12 bis 14 Uhr Mittagessen, 18 bis 20 Uhr Abendbrot. Essen, warten, schlafen und wieder essen, warten schlafen. Es ist kein gutes Leben, aber ein sicheres, und es gibt immer wieder schöne Augenblicke mit den freundlichen Helfern und den Deutschlehrern, beim Rollerfahren durch die Gänge.

Am 1. Oktober wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Chemnitz entscheiden, ob Demas und ihre Familie in Deutschland bleiben dürfen. Die Chancen sind gut. Sie würden dann eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre bekommen. Die Eltern könnten wieder arbeiten, die Kinder zur Schule gehen und in den Kindergarten. Nach den drei Jahren würde überprüft, ob sie nach Syrien zurückkehren können, ob das Land wieder sicher ist. Dema’s Vater glaubt, dass der Bürgerkrieg auch dann nicht vorbei sein wird. Zu viele Parteien, zu viele Waffenlieferungen, zu viel Hass.

An diesem Freitagnachmittag springt Demas mit ihren Geschwistern auf der Wiese vor dem Camp umher. Sie spielt mit einem Kreisel, ihre Schwester Hiva pflückt einen Strauß aus Löwenzahn und Grashalmen. Wie das so ist mit vier kleinen Kindern: Irgendeins weint immer irgendwann, aber trotzdem, es sind freie, glückliche Momente in der Septembersonne.

Die Familie will nach Hannover ziehen, wo entfernte Verwandte leben. Von vorn beginnen. Demas, die kleine Ikone, das strahlende Mädchen, wird wahrscheinlich in Deutschland aufwachsen. Was werden ihre ersten Erinnerungen sein, wenn sie groß ist? Der Bombenhall in Raqqa? Die Schlagstöcke ungarischer Polizisten? Oder grüne Feldbetten und ein Verkehrsteppich im Heidenauer Baumarkt?

Mitarbeit: Aousamah Lila