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„Das ist nicht gerecht“

Heidi Böhme kämpft um größere Anerkennung für pflegende Angehörige. Ihr Sohn soll selbstbestimmt leben können.

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© c by Matthias Rietschel

Von Karin Großmann

Es läuft alles gut, sagt die Mutter. Aber wohin läuft es, sagt der Sohn. Sie freuen sich über das Wortspiel. Einer weiß, was der andere denkt und fühlt und was das Zucken einer Augenbraue bedeutet. Fast zwanzig Jahre lang haben sie beinahe jede Stunde miteinander verbracht. Dann ist Heidi Böhme in Dresden in eine eigene Wohnung gezogen. Kurz vorm Rentenalter gibt sie ein Stück Verantwortung ab und redet sich gut zu, dass es sein muss. Einmal wird es für ihren Sohn Emanuel nur die Hilfe von Fremden geben. Der junge Mann im Rollstuhl kann nicht allein stehen, gehen, sich im Bett drehen, er kann sich die Hosen nicht selber anziehen und nicht für sich kochen. Auf die Frage, was ihm Spaß macht im Leben, wirft er die Arme in die Luft und sagt: „Das Leben selbst macht mir Spaß!“

Und nur Heidi Böhme weiß, was das bedeutet. Das ist die Geschichte einer kleinen Frau mit großen Kräften, die sich gerade mit der Regierung anlegt. Sie ist ein Sporttyp und ans Kämpfen gewöhnt, seit sie sich nach dem frühen Tod der Mutter um die jüngeren Geschwister kümmern musste. „Ich habe immer versucht, ihnen eine positive Grundhaltung mitzugeben. Das habe ich ihnen vorgelebt, auch wenn es schwer war.“ Damals entdeckte sie an der Elbe den Ort, der sie stärker macht. Sie ging paddeln. Heidi Böhme trainierte Wildwasserkanu. Später wurde sie Übungsleiterin. „Der Fluss verändert sich ständig, man braucht einen wachen Geist, um die nächste Gefahr zu wittern.“ So hat sie gelernt, mit dem Strom zu schwimmen und gegen den Strom. Ein Hindernis ist dazu da, dass man es überwindet. Notfalls wird das Boot drum herum getragen.

Der junge Mann im Rollstuhl müht sich, mit beiden Händen ein Glas Saft vom Tisch zu nehmen, festzuhalten und an den Mund zu bringen. Der 21-jährige Emanuel ist der dritte ihrer vier Söhne. Er schluckt und reicht das Glas mit einer wackligen Bewegung zurück. Nachgießen kann er nicht. Er kann auch den Flaschendeckel nicht aufheben, der unter den Tisch rollt.

„Ich war in Mathe immer ganz gut“, sagt Heidi Böhme. „Und ich kann leicht nachrechnen, wie viel die Kasse einem Pflegedienst zahlt und wie wenig einem Angehörigen.“ Sie hat Handelskauffrau gelernt und arbeitete nach dem Studium beim Großhandel für Sport- und Kulturwaren. An das Lager im Dresdner Ballhaus Watzke kann sie sich gut erinnern. „Da wurden nur Büros reingebaut, sonst blieb alles, wie es war.“ Nach dem Wendeherbst 1989 blieb nichts, wie es war, und für eine DDR-Ökonomin gab es gleich gar keine Chance. Es war die hohe Gründerzeit der Selbstständigen und Ich-AGs. Heidi Böhme verkaufte zum Beispiel Schuhe. Sie bildete Lehrlinge aus. Als sie einen Kredit brauchte und von der Bank nicht für kreditwürdig befunden wurde, musste sie das Geschäft schließen.

Neben der Mutter, sagt Emanuel, tut ihm Elfriede gut. Es dauert eine Weile, bis er den Satz herausbringt. Jedes Wort, das passend im Kopf parat liegt, scheint sich zu verweigern. Er erklärt, dass Elfriede ein schwarzbraunes Pferd ist, auf dem er reitet, ohne Sattel, auf einer Decke. Nach der Erklärung wirkt er so erschöpft, als hätte er einen schwierigen Parcours bewältigt. „Jetzt raucht der Kopf“, sagt der junge Mann im Rollstuhl. Im linken Ohrläppchen trägt er einen funkelnden Stein. Das gefällt ihm, sagt er.

Dreimal feierte Heidi Böhme Hochzeit, und jedes Mal, sagt sie, fühlte es sich an wie die große Liebe und erwies sich doch als Irrtum. Sie spricht von Schlägen und Demütigung. „Ich wollte keinen Krieg in der eigenen Familie. Die Kinder haben darunter gelitten. Doch ich habe verziehen. Das ist wichtig für die Seelengesundheit.“ Sie erzählt, wie sie sich durchkämpfte mit ihren Jungs. Sie suchte eine neue Bleibe und immer wieder neue Arbeit. Sie hangelte sich von Projekt zu Projekt. Eine Zeit lang fuhr sie nachts Taxi. Sie lernte, mit drei, vier Stunden Schlaf auszukommen. Der älteste Sohn kümmerte sich um die Jüngeren. Da wiederholte sich was. Und da gab sie auf.

Anfang 2005 stellte sie den Antrag auf Hartz IV. Heidi Böhme erzählt das so, als berichte sie von einer persönlichen Niederlage. Als hätte sie so etwas nicht erwartet von sich. Als wäre ihr Gerechtigkeitsgefühl sehr verletzt worden. Sinnlos war es außerdem. Wie sollte sie sich als „arbeitsuchend“ melden mit einem Jungen wie Emanuel? Mit ihm hatte sie schon einen Vollzeitjob. Doch sie brauchte einen Job mit Krankenversicherung, damit er dort mitversichert war und Pflegegeld erhalten konnte. Ein Teufelskreis. Auch deshalb legt sie sich mit der Regierung an. „Als pflegende Angehörige werden wir von der Gesellschaft vergessen oder bestenfalls wohlwollend zur Kenntnis genommen. Was wir leisten, wird zu wenig anerkannt.“ Mehr als zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt.

Der Blick des jungen Mannes irrlichtert durch das Zimmer. „Es war ein Unfall“, sagt Heidi Böhme und dass Emanuel bei der Geburt auf der Nabelschnur stand und sich den Sauerstoff abklemmte. Das Gehirn nahm irreparablen Schaden. Schätzungsweise 250 000 Menschen in Deutschland sind von Spastik betroffen. Muskeln werden schlaff oder steif und verkrampfen sich. Bewegungen werden unkontrollierbar. Ein Arzt riet zu therapeutischem Reiten. Das hilft? Emanuel nickt heftig. Und richtig Galopp? „Nein“, sagt er, „langsam im Schritt.“ „Aber ihr trabt doch auch“, sagt Heidi Böhme. Er verdreht den Kopf. „Ich lüge ja nicht.“ Weil das Bundesgesundheitsministerium meint, dass der Nutzen des Reitens generell als Heilmittel nicht nachweisbar sei, bezahlt die Familie die Stunden mit Elfriede selbst. „Früher hab ich mir das Geld vom Mund abgespart“, sagt Heidi Böhme. „Bei jedem Marmeladenglas hab ich das Verhältnis von Gewicht und Preis durchgerechnet.“

Der junge Mann im Rollstuhl zählt seine Vorlieben auf. Marmelade gehört nicht dazu. Aber Nudeln mit Käse, die Musik von Helene Fischer und Volvo, das ist sein Teddy. Und die Eislöwen natürlich. Das blau-weiße Shirt hat Emanuel erst neulich getragen, als er die Mannschaft anfeuerte, die er seine Mannschaft nennt. Selten verpasst er ein Spiel. „Es gibt gute und schlechte Tage“, sagt er und dass er alle Lieder kennt, die dort gesungen werden. Einer seiner Assistenten fährt ihn zum Stadion. Einer von ihnen ist Tag und Nacht um ihn herum.

Emanuel lässt sich Leistungen für Heim, Werkstatt, Fahrtdienst, die ihm als Schwerstbehindertem zustehen, vom Staat auszahlen. Damit finanziert er seine Assistenten. Sie sind von Beruf Informatiker, Heimerzieher, Diplomsoziologe. Mancher kommt drei Tage am Stück. Mit dem Gesetz zum „persönlichen Budget“ wird Emanuel zum Arbeitgeber. Heidi Böhme schreibt den Personalplan. Sie kümmert sich um Lohnabrechnung und Steuerbüro.

Ihren Hauptjob hat sie seit einem Jahr im Kneipp-Verein als Vorturnerin für Senioren und Kinder. Stundenweise verdient sie was dazu als Alltagsbegleiterin für eine ältere Frau und als Übungsleiterin beim Lebenshilfe-Verein. Ehrenamtlich kümmert sie sich um Nachwuchs-Kanuten. Sie hat eine Weiterbildung als Rettungsschwimmerin und Reha-Übungsleiterin absolviert. Sie paddelt jetzt auch wieder. „Zwischendurch“, sagt sie, „bin ich mir über der Pflege selbst verloren gegangen.“

Die Assistenten wissen, wann sie nicht greifbar ist. Assistent klingt anders als Helfer oder Pfleger. Es klingt nach Selbstbestimmtheit. Zu Hause kann Emanuel selbst entscheiden, wann er isst, duscht oder schläft. Das ist es, wofür Heidi Böhme ein Leben lang gekämpft und gestritten hat, und weshalb sie nun eine Online-Petition startet. Sie ist sechzig und findet: „Jetzt habe ich Zeit für Politik. Wir Ossis haben es nicht gelernt, irgendwas zu beantragen oder Widerspruch anzumelden, wir fürchten uns vor dem Papierkrieg. Aber manchmal geht es nicht anders.“

Einer der Söhne hat ihr das mit der Petition erklärt. Heidi Böhme braucht 120 000 Stimmen bis Ende November, damit der Bundestag ihren Antrag behandelt. Sie fordert ein sozialversicherungspflichtiges Einkommen für pflegende Angehörige. Ihr Sohn erhält neben der Grundsicherung ein Pflegegeld von 728 Euro. Heidi Böhme, die täglich fünfeinhalb Stunden für den Sohn arbeitet, hat das umgerechnet. Sie liegt bei einem Stundenlohn von nicht mal fünf Euro. „Das ist nicht gerecht.“ Bisher hat sie nur einen Bruchteil der benötigten Stimmen zusammen, obwohl die Kommentare zur Petition wie ein einziger Aufschrei klingen. Betroffene erzählen von ihrer Erfahrung, von Verzicht und Doppelbelastung, von Armut durch Pflege. Viele kritisieren das geplante Bundesteilhabegesetz: Behinderte werden wieder nur als Hilfsempfänger betrachtet, bevormundet und eingeschränkt.

„Das Gesetz“, sagt Emanuel und kämpft mit den Worten, „das Gesetz ist zum Kotzen.“ Er windet sich auf dem Rollstuhl. Sein Gesicht glänzt rot und verschwitzt. „Jetzt raucht der Kopf nicht bloß, jetzt brennt Feuer.“ An der Pinnwand hängen die Adressen von Ärzten und Therapeuten und der Spruch: „Nur August war stärker!“