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Das Grab in der Heide

1942 ermorden die Nazis in der Nähe von Bautzen einen polnischen Zwangsarbeiter. Sein Schicksal wird Grundlage für eine bekannte Erzählung. Eine Spurensuche.

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© Domowina-Verlag

Von Miriam Schönbach

Bautzen/Neschwitz. Fröhlich zwitschern die Vögel an diesem schon fast sommerlichen April-Nachmittag. Im Wind wiegen sich die kaum zwanzig Jahre alten Birken am Waldweg. Die Kiefern zählen schon einige Frühlinge mehr an dieser Gabelung zwischen Neschwitz, Lomske und Zescha. Die Sonne lugt über die Spitzen der Bäume und verbreitet Idylle auf der Lichtung mit dem markanten Grenzstein. Trudla Malinkowa lauscht in das Rauschen des Waldes. „Was für ein schöner Ort. Doch 1942, fast auf den Tag genau, wurde hier ein unschuldiger, polnischer Arbeiter erhängt“, sagt die Wissenschaftlerin. 70 Jahre nach der grauenhaften Tat hat sie nun den Fall erstmals rekonstruiert.

Auf dieser Lichtung zwischen Lomske, Neschwitz und Zescha wurde 1942 ein polnischer Zwangsarbeiter von den Nazis ermordet. Die Wissenschaftlerin Trudla Malinkowa hat sein Schicksal erforscht.
Auf dieser Lichtung zwischen Lomske, Neschwitz und Zescha wurde 1942 ein polnischer Zwangsarbeiter von den Nazis ermordet. Die Wissenschaftlerin Trudla Malinkowa hat sein Schicksal erforscht. © Uwe Soeder

Ausgangspunkt ihrer Recherchen ist die bekannte Erzählung „Das Grab in der Heide“ der Schriftstellerin Maria Kubasch (1890 bis 1976). Sie handelt von der Exekution eines polnischen Zwangsarbeiters während des Zweiten Weltkriegs, der sich verbotenerweise in eine Einheimische verliebt. „Die Geschichte war über Generationen Pflichtlektüre in sorbischen Schulen. Als Schülerin war mir nicht bewusst, dass sie auf einer wahren Begebenheit beruht“, sagt die 63-Jährige. Als Biografin der bedeutenden, sorbischen Autorin fallen ihr die Zeilen wieder in die Hände. Auf einmal lässt sie das Gelesene innehalten.

Als Zwangsarbeiter in der Lausitz

In den Heidedörfern hält sich das Gerücht von dieser Gräueltat seit Kriegsende. Die Bautzenerin fragt herum. Ein langjähriger Bekannter sagt ihr schließlich: „Ja, das ist genau hier passiert. Ich war damals ein kleiner Junge.“ Dieser Zeitzeuge ist Martin Pannach, Jahrgang 1929. Auf den Hof seines Vaters in Lomske, nicht einmal einen Kilometer entfernt von der Lichtung, kommen bald nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Polen drei Arbeiter aus dem Osten. Mit Hundertausenden anderen werden die Zivilisten aus dem eroberten Nachbarland ins Deutsche Reich geschickt, um einerseits die Kriegsproduktion am Laufen zu halten und andererseits in der Landwirtschaft zu helfen.

Wie Juden und Russen gelten die Polen in der nationalsozialistischen Ideologie als „rassisch-fremde“ und „minderwertige“ Menschen. Ihr Aufenthalt wird streng reglementiert. SS-Chef Heinrich Himmler soll persönlich die Sanktionen diktiert haben. Wie die Wissenschaftlerin schreibt, erging unter anderem folgender Appell: „So wie es als größte Schande gilt, sich mit Juden einzulassen, so versündigt sich jeder Deutsche, der mit einem Polen oder einer Polin intime Beziehungen unterhält…“ Und wer sich „unsittliche Handlungen“ zuschulden kommen lässt, wird sofort festgenommen, dem Chef der Sicherheitspolizei gemeldet und „mit dem Tode bestraft“.

Wahrscheinlich denunziert

Ein Windstoß lässt die zarten Birkenblätter rauschen. Unweit des Waldsaums grasen Pferde auf einer Weide. Gut 20 Einwohner zählt heute das Dorf Lomske, ein Haus an der Straße verfällt langsam. Der Pannach-Hof strahlt mit gelber Fassade an diesem Tag mit der Sonne um die Wette. „Sicherlich sah der Ort früher nicht viel anders aus. Man kann sich richtig vorstellen, wie Staszek aus dem Hoftor mit dem Pferdewagen fuhr“, sagt Trudla Malinkowa. Staszek, so wird der Arbeiter aus dem Osten gerufen. Noch Jahre später, so erinnert sich der Zeitzeuge, wird sein Vater begeistert von dem jungen Mann erzählen, der sich besonders gut mit Tieren und der Landwirtschaft auskannte.

Woher der freundliche, arbeitsame Arbeiter kam, sein vollständiger Name – als dies bleibt lange im Dunkeln. Trudla Malinkowa dreht sich auf dem Sandweg. „Fröhlich singend und pfeifend soll er früh mit dem Gespann auf die Felder gefahren sein“, sagt sie. Vielleicht wird ihm jene Lebensfreude zum Verhängnis. Als die Pannachs im Herbst 1941 zur Kirmes in Quatitz sind, wird Staszek abgeholt und für eine Nacht ins Spritzenhaus nach Neschwitz gebracht. Man munkelt, ihm wird Unsittlichkeit vorgeworfen. Angeblich soll er mit einem Mädchen aus dem Dorf eine Liebelei begonnen haben. „Ob es so war, kann keiner sagen. Eine solche Geschichte ereignet sich heute x-Mal. Damals bedeutete sie aber den Tod. Das ist die Tragik“, sagt die Kulturwissenschaftlerin.

Wahrscheinlich wird der junge Pole denunziert. Seine Hinrichtung mitten auf der Lichtung inszenieren die Nazis ein halbes Jahr später als ein abschreckendes Spektakel. Wohl in den frühen Morgenstunden des 25. Aprils 1942, einem Sonnabend, wird der Gefangene ohne Urteil in den Wald gefahren. So berichtet es auch Maria Kubasch in ihrer Erzählung. Aus ihrem Vaterhaus in Quoos sieht die Schriftstellerin den Laster voll gepfercht mit polnischen Zwangsarbeitern Richtung Heide fahren, weiß Trudla Malinkowa. Zur Hinrichtung selbst sollen aus allen Dörfer Hunderte Leute zusammengeholt worden sein. In der Eintragung des Sterberegisters im Standesamt Neschwitz stößt die Wissenschaftlerin bei ihren Recherchen auf den vollständigen Namen des Hingerichteten: Stanislaw Blazejczuk, geboren am 25. Juli 1915 in Konstantynów ganz in der Nähe von Lublin. Der Eintrag zur Todesursache in diesem Dokument: Tod durch den Strang laut Anzeige der Geheimen Staatspolizei. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt noch das Podest für die Exekution, wie es an der Kiefer lehnt.

Gedenkstein zur Erninnerung

Der alte Baum ist längst gefällt. Die Geschichte aber hat Trudla Malinkowa nicht mehr losgelassen. Mit dem richtigen Namen macht sich die Bautzenerin auf die Suche nach Staszeks Spuren. In seiner einstigen Heimat an der heutigen ukrainischen Grenze findet sie den Eintrag ins Geburtsregister, doch niemand weiß mehr über die Familie. Ihre Nachforschungen in deutschen Archiven bleiben ergebnislos. „Wir wissen, dass Millionen Menschen in dieser Zeit umgekommen sind. Aber das Schicksal eines Einzelnen, eines Menschen aus unserer Mitte, geht uns noch näher“, sagt die Wissenschaftlerin.

Ihre Forschungen sind nun zusammen mit der Erzählung „Das Grab in der Heide“ im Domowina-Verlag in den Sprachen Deutsch, Obersorbisch und Polnisch erschienen. „Vielleicht endet meine Spurensuche ja doch noch nicht, vielleicht gibt es noch jemanden, der etwas mehr weiß“, sagt die Autorin. Die Gemeinde Neschwitz wird mit einem Gedenkstein an die Hinrichtung des polnischen Zwangsarbeiters erinnern. Seinen Platz bekommt er am 28. April an der Stelle der ehemaligen „Blutkiefer“ auf der Lichtung zwischen Lomske, Neschwitz und Zescha.

Andacht zur Enthüllung des Gedenksteins am Sonnabend, dem 28. April, um 14 Uhr.

Buchpremiere in sorbischer Sprache, 3. Mai um 19.30 Uhr in der Smoler’schen Verlagsbuchhandlung Bautzen