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Das geht unter die Haut

Schon Ötzi war tätowiert, und auch der Dichter Joachim Ringelnatz ließ sich mit Nadeln stechen. Über die Lust an der Körperkunst in Geschichte und Gegenwart erzählt eine Ausstellung im Grassi Museum in Leipzig.

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© Grassi Museum Leipzig

Von Claudia Euen

Es war fast ein Aufschrei, der 2012 durch die Presse ging: „Lieblos an den Oberarm getackert wirkt das abgestandene Tribaltattoo, weil es als Geste der Provokation keinen Hauch von Würde und Freiheit besitzt“, schrieb ein wütender Autor in der Tageszeitung Die Welt über Bettina Wulffs Oberarmbemalung. Die First Lady hatte kurz zuvor das Kopfschütteln der Medien über ihr Tattoo als „Spießigkeit“ verurteilt, sah sie darin ein „Stück ihres Lebensgefühls, des eigenen Ichs“. Was immer dieses „Ich“ auch darstellen mag, interessant war die Debatte um die kleine, am Oberarm gestochene Verzierung, zeigte sie doch die Brisanz des Themas: Einerseits gelten Tattoos noch immer als Provokation, andererseits trägt sie auch eine First Lady offen zur Schau – vor ein paar Jahren undenkbar.

... oder Ronald aus Sonneberg, der seine Tätowierungen als Schutzschicht sieht, als eine Art Mantel ....
... oder Ronald aus Sonneberg, der seine Tätowierungen als Schutzschicht sieht, als eine Art Mantel ....
... oder Marie, die ihre Haut als Spiegel ihrer Seele betrachtet. Auf die Hand gestochen ist ein Kreuz, zum Gedenken an ihren toten Sohn.
... oder Marie, die ihre Haut als Spiegel ihrer Seele betrachtet. Auf die Hand gestochen ist ein Kreuz, zum Gedenken an ihren toten Sohn. © Antje Kroeger

Tattoos sind in der Gesellschaft angekommen. Die Statistik sagt: Jeder fünfte Deutsche ist tätowiert. Und es werden mehr. Die Lust an der Körpermodifikation nimmt vor allem bei Frauen und älteren Menschen zu. Das ergab eine aktuelle Studie der Universität Leipzig. Rund die Hälfte aller Frauen zwischen 25 und 34 Jahren haben sich mit der Nadel unter die Haut stecken lassen, das sind 19 Prozent mehr als noch im Jahr 2009. Also nicht mehr nur Promis, Rockstars und Fußballer tragen Tattoos zur Schau, auch der Durchschnittsbürger bekennt sich öffentlich zur Körpermodifikation.

Was aber sagt das über eine Gesellschaft aus, die sich Zeichen unter die Haut ritzt? Was treibt die Menschen an? Reicht das eigene Fleisch nicht mehr, Schönheit zu demonstrieren? Nach Antworten suchend und den Zeitgeist erkennend, luden die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im vergangenen Jahr Besucher und Besucherinnen ein, sich und ihre Tattoos fotografieren zu lassen. Hunderte kamen, ließen sich ablichten, erzählten ihre Geschichten. Die kann man nun in der Ausstellung „ In Tattoo und Piercing – Die Welt unter der Haut“ im Grassi Museum Leipzig hören und sehen.

Marie ist 33 Jahre alt und selbst Tätowiererin. Ihr kompletter linker Arm ist rot und schwarz bemalt, auf der Schulter verweilen Blumen und Pflanzen, weiter unten wird es ernst. „Ich habe ein Kind in der 30. Schwangerschaftswoche verloren“, erzählt sie. Weil ihr Sohn nicht richtig beerdigt werden konnte, trägt sie heute das Kreuz auf ihrer Hand. Ihr Foto ist auf eine Leinwand gedruckt. Zu jedem Bild gibt es Kopfhörer, mit denen die Intention und die Geschichten der Abgebildeten nachgehört werden können.

„Der gesamte linke Arm ist emotionale Verarbeitung“, sagt die Leipzigerin, die schon mit 12 Jahren von Tattoo-Studios magisch angezogen wurde. Sie habe oft das Gefühl gehabt, dass sie mehr sei als ihre äußere Hülle. Die Haut ist für sie Spiegel der Seele. So wie andere ihr Innerstes aufschreiben, verewigt sie ihre Gedanken in Bildern. Für Ronald aus Sonneberg hingegen haben seine großflächigen Hautmalereien keine besondere Bedeutung. Die geometrischen Figuren erinnern an Verzierungen aus Polynesien. Der 38-Jährige sieht sein Tattoo als Ganzkörperkonzept, als eine Art Mantel. Jedes Jahr erweitert er seine Schutzschicht, wie er es nennt, mit neuen Mustern, bis irgendwann alles voll ist.

„Tätowierungen können der Verwandlung dienen oder einem inneren Heilungsprozess. Für andere sind sie Schutz oder Erinnerung“, sagt Kevin Bress. Gemeinsam mit Lydia Hauth hat der Leipziger Ethnologe die Ausstellung kuratiert und eine Vielzahl an biografischen Inneneinsichten gesammelt. Die einen lassen sich ihre Lieblingsband oder die Namen ihrer Kinder tätowieren, die anderen gliedmaßenübergreifende drachenähnliche Tiere. Und so umfangreich, detailgenau und vielschichtig die Ausstellung auch ist, kann sie doch kein klares Bild über Tattooträgerinnen und ihre Ambitionen zeichnen.

Objekte, Fotografien, Zeichnungen aus den Sammlungen der Völkerkundemuseen in Leipzig, Dresden und Herrnhut und Performances sowie zeitgenössische Kunst erzählen von der Faszination an der Körpermodifikation, aber auch von ihrer gesellschaftlichen Bewertung. Vor allem spiegelt die Schau die jahrhundertelange Metamorphose einer Kunstgattung, die so nah am menschlichen Dasein haftet wie vielleicht keine andere.

„Früher gehörten Tattoos und Piercings in die Schmuddelecke. Heute gelten Menschen mit Körpermodifikationen als aufgeweckte, interessierte Menschen, die sich zu einer sozialen Gruppe bekennen“, fasst Elmar Brähler diese Wandlung zusammen. Der frühere Professor für Psychologie an der Universität Leipzig hat gemeinsam mit Ada Borkenhagen die Erhebung zur Verbreitung von Tätowierungen, Piercings und Körperhaarentfernungen in Deutschland initiiert. Für ihn spiegeln die Ergebnisse ganz klar eine Werteverschiebung. Tattoos und Piercings seien längst nicht mehr die Ausnahme, sondern zur Körpernorm geworden. Rund ein Drittel der Frauen zwischen 14 und 34 Jahren sind gepierct, bei den gleichaltrigen Männern sind es knapp 15 Prozent, so viele wie noch niemals zuvor in dieser Altersgruppe.

Doch die Ausstellung im Grassi Museum belegt, dass Tattoos wahrscheinlich schon immer zum menschlichen Leben dazugehört haben. Ganz frühe Statuen mit Körperverzierungen oder Schmucknarben aus Thailand und Polynesien beweisen das. Aber auch schon bei Ötzi, der über 5 000 Jahre alten Mumie, fand man Zeichnungen auf der Haut. Die Pikten, Volksstämme aus Schottland, trugen Marker, Anfang des 20. Jahrhunderts auch Adlige, Bürger, Aristokraten oder Menschen der Unterschichten. „In Europa gab es schon sehr lange Tätowierungen“, sagt Kevin Bress. Statistische Angaben gebe es nicht, sagt er, „aber man geht davon aus, dass Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu 30 Prozent der Bevölkerung in Europa tätowiert waren.“ Rudolph Virchow habe von einer regelrechten Tätowierungswut gesprochen.

Und so überspringen die Ausstellungsmacher die Anfänge der Tätowierung und beginnen erst in jener Zeit tiefgründig zu schürfen, als die Europäer die Tattoos für sich entdeckten. Ihr historischer Abriss beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts, als James Cook oder Admiral von Krusenstern den pazifischen Ozean und seine Inseln bereisten und das Bild des „Edlen Wilden“ nach Europa brachten. Es folgten Völkerschauen und exotische Spektakel, eine Mischung aus Faszination für das Fremde, das Andersartige und gleichzeitig die Unterscheidung in Naturmensch und zivilisatorische Errungenschaft. Joachim Ringelnatz erzählte in „Mein Leben bis zum Kriege“, wie er um 1900 den Zoo liebte, weil dort Einwohner aus Samoat ausgestellt waren.

Er bewunderte ihre Tattoos, schenkte ihnen Christbaumschmuck und ließ sich schließlich zwischen zwei Schulstunden selbst tätowieren, was ihm einen Schulverweis einbrachte. „Es tat ein bisschen weh und kostete auch ein Tröpfchen Blut“, schrieb er. Aber er war stolz, so wie andere Kolonisatoren, die sich tätowieren ließen, um bessere Geschäfte in Übersee tätigen zu können.

Reisen und Tätowierung waren also untrennbar miteinander verbunden. Im 18. Jahrhundert soll es in jedem Hafen einen Tätowierer gegeben haben. Vor allem Seemänner waren tätowiert, aber auch Prostituierte. Die Körperbemalung erhielt gesellschaftliche Zuschreibungen, die anfängliche Bewunderung verwandelte sich im 19. Jahrhundert ins Gegenteil. Die Tätowierung rutschte in eine Nische. Der italienische Arzt Cesare Lombroso veröffentlichte 1896 seine anthropologischen Verbrecherstudien und begann, Kriminelle zu typisieren. Weil er seine Studien hauptsächlich in Gefängnissen durchführte, glaubte er zu wissen, dass Motive und Körperstellen, an denen Tattoos angebracht sind, Rückschlüsse darauf geben, welche verbrecherische Neigung diese Person hätte. „Die Studie war in der Fachwelt umstritten, hatte aber eine große Strahlkraft“, erklärt Kevin Bress.

Im dritten Reich wurden Tätowierstuben geschlossen und das Tattoo zum Stigma oder ein Zeichen für Ausgrenzung – zum Beispiel für KZ-Insassen. Schmerz scheint bei den Tätowierten kein Hindernis zu sein. Im zweiten Teil der Ausstellung gibt es Slow-Motion-Tattoo-Videos, Tätowier-Gerätschaften und höchst interessante Schmuckstücke, bei denen man sich kaum vorstellen will, wie und wo diese am und im Körper angebracht worden sind. Am Computer gibt es Einsicht in das „Living Archive“, also die Geschichten und Bilder jener Besucher, die für die Kamera ihre Körperbemalungen gezeigt haben. Das ist eine Art ästhetische Fleischbeschau, die die Lust an der Selbstdarstellung zeigt. Ließ sich Zar Nikolaus noch ein Drachenmotiv als Zeichen königlicher Macht tätowieren, so sind die Motive heute so durchmischt wie die Absichten dahinter.

Montagmorgen im Tattoostudio Stichgebiet im Leipziger Westen. Lisa Doktor ist die erste Kundin heute.. Die Tätowiernadel brummt. „Es vibriert ganz leicht. Ich finde es angenehm, manch anderer würde sagen, es tut weh“, sagt Lisa Doktor. Tattoos sind für die 24-Jährige kein Neuland. Seit sie 16 Jahre alt ist, lässt sie sich Kunst unter die Haut stechen: ein Kussmund, ein Mandala, eine Friedenstaube oder den Namen ihrer Mutter. Jedes Bild hat seine eigene Bedeutung. „Ich will, das etwas für die Ewigkeit bleibt. Ich nehme das mit ins Grab, und das war mein Leben. Das find ich gut, die Geschichte von sich selbst mit sich rumzutragen. Das hat einen ganz anderen Stellenwert“, sagt die junge Frau.

An den weiß getünchten Wänden des kleinen Ladengeschäfts hängen filigrane grafische Zeichnungen: Blumen, Hunde, Fantasiefiguren. Die Tätowiererin Peggy Miksch malt selbst und greift die Ideen ihrer Kunden auf. Waren früher die Rose am Oberarm oder das Ornament überm Steißbein beliebt, gibt es heute neue Favoriten im Dschungel der Motive, sagt Miksch. Sprüche seien sehr beliebt. „Die Pusteblume ist gerade der totale Renner. Oder Federn, Vögel. Das sind so die drei Sachen, da kommen ganz viele Leute damit. Eine Pusteblume fliegt mit, es ist was Vergängliches, was Zeitloses, Sanftes.“

Das raubeinige Image des Tätowierens ist im Wandel. Wer ins Stichgebiet kommt, trifft keine bärtigen Männer mit Totenköpfen auf ihren Oberarmen. Eine kleine Biene strahlt als Logo von der milchigen Fassadenscheibe. In weißer Bluse, bunt gefärbten Haaren und fast untätowiert, heißt Peggy Miksch auch jene Gäste willkommen, die bisher mit der dauerhaften Körperkunst vielleicht nur wenig am Hut hatten: Frauen, Studenten, Touristen, Neugierige. Zwischen 16 und 67 Jahre sind sie alt. Die Hemmschwelle sei niedriger geworden, sagt sie. Eine Motivation sei, dass die Leute sich verändern oder mit Körperschmuck erneuern wollen. Dabei spiele auch ein neues, selbstbewussteres Körpergefühl eine Rolle. „Durch die Medien wird es immer leichter, man braucht nur nach draußen zu gehen und man begegnet dem ersten Fußgänger, der ein Tattoo hat“, sagt Miksch.

Für die Psychologin Ada Borkenhagen liegt die wachsende Lust an der Körpermodifikation auch am gängigen Schönheitsideal. „Körper sollen heute möglichst jugendlich aussehen“, erklärt sie. Aber auch der normative Druck spiele eine Rolle. Wenn sich der Großteil der eigenen sozialen Gruppe pierct, tätowiert oder rasiert, dann sei es schwerer, es nicht zu tun.

Aber Tätowierung hat auch etwas mit sozialem Status zu tun. Denn, so fanden die Forscher heraus: Personen, die ein Tattoo tragen, haben häufiger einen geringeren Bildungsabschluss als Menschen ohne eine Tätowierung. Arbeitslose tragen deutlich häufiger ein oder vor allem mehrere Piercings. Dass die Körperzeichnungen heute vom subkulturellen Rand der Gesellschaft in ihre Mitte gerutscht sind, liegt auch an unserem Wirtschaftssystem, sagt Journalist und Philosoph Tobias Prüwer. „Tätowieren ist mittlerweile total normal, hip, trendy. Es ist auch ein Business . Es gibt viele Hersteller, die sich auf Farben, auf Maschinen und Accessoires ringsherum spezialisiert haben. Es gibt Entfernungsindustrien.“ Für Prüwer, der tätowiert ist, wird dadurch einerseits die These bestätigt, dass die Gesellschaft immer individueller wird, und andererseits, „dass sich der Kapitalismus alle Moden einverleiben kann.“ In seinem Buch „Fürs Leben gezeichnet“ umreißt er die gesellschaftlichen Zuschreibungen dieser Körperkunst. Als spezifisch regional oder sogar ostdeutsch aber würde er den Tattoohype nicht bezeichnen. Eher sieht er ein Stadt-Land-Gefälle.

Nach einer Stunde ist Lisa Doktor stolze Besitzerin eines neues Tattoos. „Als wäre diese Welt ein Kaleidoskop“, steht in schwarzen Lettern auf ihrem Unterarm. Für sie ein Ausdruck unseres Daseins. „Man kennt das ja von der Kindheit. Wenn man weiterdreht, sieht man was anderes. Das kann man ein Stück weit mit dem Leben verbinden. Es geht weiter und es kommt immer irgendwas anderes“, sagt sie. Im Gegensatz dazu bleibt das Tattoo für immer.

Ausstellungsdaten

  • Die Ausstellung „Tattoo und Piercing – Die Welt unter der Haut“ im Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig, Johannisplatz 5 – 11, läuft noch bis zum 7. Januar 2018.
  • Geöffnet ist sie täglich von 10 bis 18 Uhr, Montag ist geschlossen.
  • Eintrittspreise: regulär 8 €, ermäßigt 6 €, unter 17 Jahren frei, Gruppen ab zehn Personen 7 €.