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„Das Gefühl der Demütigung sitzt immer noch tief“

Die Sachsen haben die Verwerfungen der Aufbaujahre nicht verdaut. Das hat Folgen, sagt Integrationsministerin Köpping.

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© dpa

Frau Köpping, Sie sind Ministerin für die Gleichstellung von Frauen und die Integration von Flüchtlingen. Warum kümmern Sie sich um die sozialen Folgen der Wiedervereinigung?

Weil ich immer wieder darauf angesprochen werde. Und aus meiner Sicht hängen die Themen unmittelbar miteinander zusammen. Wir haben doch immer wieder mit der Frage zu tun, warum es ausgerechnet in Sachsen so viel Ausländerfeindlichkeit, Aggressivität und Wut gibt. In all den vielen Gesprächen, die ich führe, geht es aber nicht vordergründig um die Flüchtlinge. Die meisten Menschen wollen eigentlich über ihr eigenes Leben sprechen. Erst vor wenigen Tagen hat eine Frau auf einer Veranstaltung erzählt, dass sie trotz ihrer zwei Facharbeiterabschlüsse aus DDR-Zeiten nie einen richtigen Arbeitsplatz gefunden hat. Ihren Beruf und ihren alten Betrieb gab es nicht mehr. Sie hat sich dann wie viele andere irgendwie durchgeschlagen und ist nun im Vorruhestand. So ist es vielen Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung ergangen. Sie blieben arbeitslos oder mussten sich unter Wert verkaufen.

Geht es um Neid auf Flüchtlinge?

Ein Teil hat die Zeit des wirtschaftlichen Aufbaus als Demütigung empfunden. Sie haben 25 Jahre lang gekämpft und keine richtige Arbeit und damit keine Anerkennung gefunden. Dafür schämen sie sich bis heute. Es ist Akademikern genauso schlecht ergangen wie Arbeitern. Deshalb fragen heute viele von ihnen so wütend, warum die Politiker so viel Geld bekämen und sich alle Welt plötzlich nur noch um die Flüchtlinge kümmere.

Warum zeigen sich die Frustrationen in einer Phase mit niedriger Arbeitslosigkeit und steigenden Löhnen?

Die Errungenschaften in den Aufbaujahren konnten längst nicht alle genießen. Die neuen Straßen und die sanierten Häuser hat nicht jeder als seinen Erfolg empfunden. Und deswegen ist es so, dass die schlagartige Zuwanderung im vorigen Jahr als Tüpfelchen auf dem I empfunden wurde. Pegida war für Menschen, die sich als Verlierer gesehen haben, wie eine Bezugsgruppe mit Gleichgesinnten, denen es ähnlich schlecht ergangen ist. Die über 60-Jährigen haben anders als die Jungen ihre Hoffnungen aufgegeben. Der überwiegende Teil der Anhänger von Pegida und AfD sind übrigens Männer, und es ist für mich als Gleichstellungsministerin ebenfalls eine wichtige Aufgabe, mich um die Männer zu kümmern.

Wie meinen Sie das?

Auf dem Land gibt es mancherorts mehr Männer als Frauen, das ist tatsächlich ein Problem. Ohne eigenes Einkommen finden sie keine Partnerin. „Wenn Sie mir eine Frau besorgen, gehe ich nicht mehr zu Pegida“, heißt es so oder ähnlich in Mails an mich. Und das sind keine Einzelfälle. Eine Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats in Leipzig kennt ähnliche Geschichten. Männer sagen ihr am Telefon: „Schicken Sie mir eine Frau aus dem Flüchtlingsheim.“

In Umfragen sagen viele Ostdeutsche, ihnen gehe es heute besser als zu DDR-Zeiten. Wie passt das zusammen?

Die Städte und Dörfer sind geputzt und geschniegelt, aber das ändert nichts an der Gefühlslage des Einzelnen. Sie lesen in den Medien die Geschichten über die Zukunft der digitalen Arbeitswelt und wissen ganz genau, daran können sie nicht teilhaben. Das trifft auch die jungen Menschen, die keinen Bildungsabschluss haben. Selbstfahrende Autos? Toll, sagt der Berufsfahrer und fragt sich: „Was wird aus mir?“

Haben nicht gerade die Sachsen dieser Politik, die Sie kritisieren, über 20 Jahre lang bei Wahlen ihre Stimme gegeben?

Kurt Biedenkopf hatte wirklich Visionen für Sachsen. Er wollte blühende Landschaften entwickeln. Das hat viele angezogen. Eine Führungs- und Vaterfigur wie ihn hatten wir als SPD nicht. Biedenkopf hat aber auch vieles schöngeredet. Er ist auch für die turbokapitalistische Entwicklung in Sachsen zuständig. Viele haben gar nicht so schnell erkannt, was das mit ihnen gemacht hat. In meiner Heimatregion Borna wurden damals 30 Prozent der Menschen über Nacht arbeitslos. Niemand hat sich je um sie gekümmert. Sie haben sich zurückgezogen, weil sie nicht zugeben wollten, wie schlecht sie sich fühlen.

Wer hätte sich denn kümmern sollen?

Ich war damals Bürgermeisterin und kann mich noch gut daran erinnern, dass ich regelmäßig Besuche gemacht habe. Dazu gab es noch den Pfarrer und den Hausarzt. Wir alle konnten die Kümmererfunktion gar nicht mehr richtig ausüben, weil die Einzugsbereiche zu groß geworden sind. Die Kreisgebietsreformen waren ein großer Fehler. Sie haben die Verwaltung nicht nur nicht kostengünstiger gemacht, sondern auch noch die alten Sozialstrukturen zerstört. Dadurch ist die Demokratie stark beschädigt worden. Die Bürgermeister in den kleinen Orten hatten eine wichtige Funktion, die es nun nicht mehr gibt.

Ist der „Stachel der Demütigung“, wie Sie es nennen, die eigentliche Ursache für Ausländerfeindlichkeit?

Es gibt viele Gründe, aber dies ist eine der Ursachen. Häufig ist es auch der Neid auf die finanziellen Mittel, die nun für die Integration zur Verfügung stehen: 50 Millionen Euro umfasst der Haushalt meines Ressorts. Aber das Geld bekommen ja nicht die Flüchtlinge ausbezahlt. Es wurden im Integrationsbereich sehr viele Arbeitsplätze für Sachsen geschaffen. Ich will aber nicht so tun, als gäbe es nicht auch Rassismus in diesem Land. Nur eines ist für mich auf alle Fälle klar: Wer Angst hat vor dem Islam und sagt, ich weiß gar nicht, welche Menschen zu uns gekommen sind, ist kein Rassist. Ich bringe immer wieder Einheimische mit Asylbewerbern zusammen und lasse sie ihre Fluchtgeschichten erzählen. Und dann frage ich: „Was hättet ihr an deren Stelle getan?“

Kommen Sie mit der Forderung nach Aufarbeitung der sogenannten Nachwendezeit nicht zu spät?

Jedes Thema braucht seine Zeit. Die Wiedervereinigung hat das Leben der Ostdeutschen gravierend verändert. Jeder war vollauf damit beschäftigt, sich eine neue Existenz aufzubauen. Auch Politik und Verwaltung hatten zunächst andere Probleme als die Gefühlslage der Menschen. Gesellschaftspolitische Aufgaben sind ins Hintertreffen geraten.

Sie fordern eine Aufarbeitung dieser Zeit. Wie stellen Sie sich das vor?

Wir wissen heute nicht, wie viele DDR-Betriebe geschlossen wurden und was aus den Beschäftigten wurde. Ich denke an einen Verein, der mit wissenschaftlicher Begleitung solche Dokumentationen erstellt und Lebensgeschichten sammelt. Die Biografien können wir nicht mehr ändern. Aber wir können Gelegenheiten schaffen, sie aufzuarbeiten.

Stellen Sie Mittel aus Ihrem Ministerium zur Verfügung?

Ich prüfe das gerade. Es gibt einige Programme, zum Beispiel „Weltoffenes Sachsen“, die wir dafür teilweise einsetzen könnten. Wir müssen klein anfangen, aber wir werden es tun.

Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), hat im Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten als Hemmnis für die Zukunftsentwicklung angeprangert. Wie sehen Sie das?

Ich habe mich sehr darüber geärgert. Natürlich gibt es Rassismus in Ostdeutschland. Aber die Ursachen dafür hat sie mit keinem Wort erwähnt. Warum ist denn die AfD so erfolgreich? Sie spricht mit den Menschen auf der Straße und hört genau zu. Genau deshalb müssen wir uns dieses Themas annehmen.

Steht uns eine neue Ost-West-Debatte bevor?

In der Anfangszeit wurde fast jeder Führungsjob mit einem Westdeutschen besetzt. Sogar die ersten Landräte kamen aus dem Westen. Das war damals auch nötig, weil den Ostdeutschen die Erfahrungen fehlten. Aber diese Zeit hätte man befristen können auf ein, zwei Jahre.

Das Gespräch führte Karin Schlottmann.