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Brisante Tradition

In Leipzig steigt das Stadtderby im Fußball zwischen Lok und Chemie. Begleitet wird es von mysteriösen Aktionen.

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Von Thilo Alexe

Es ist fast alles so wie beim ganz großen Fußball: Die Tickets sind weg, das Stadion ist voll, das Fernsehen überträgt live, und es geht um den Einzug ins Halbfinale: Beim Leipziger Stadtderby am Sonntag stehen sich zwei traditionsreiche Vereine gegenüber, die BSG Chemie empfängt den Lokalrivalen Lok. Der Sieger wahrt die Chance auf den Sachsen-Pokalgewinn. Wer beim Schlangestehen keine der 4 999 Karten erhalten hat, kann das reizvolle Derby im MDR verfolgen.

Doch schon vor dem Anpfiff wird die brisante Partie von mysteriösen Aktionen überschattet. Am Donnerstag baumelten von Leipziger Brücken und Straßenschildern rund 30 lebensgroße und mit Stroh gefüllte Puppen. Sie trugen Overalls in Grün, der Farbe von Chemie, zudem waren sie mit Erkennungszeichen des Vereins oder dessen Fanklubs bemalt.

Selbst in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen meldeten Autofahrer Puppenfunde. „Es gab in diesem Zusammenhang auch einen Verkehrsunfall mit Sachschaden“, teilt der Leipziger Polizeisprecher Uwe Voigt mit. Die Beamten vermuten einen Bezug zum heiklen Lokalderby. Die makabre Botschaft soll wohl lauten: Chemie wird hingerichtet.

Die Rivalität unter den Anhängern hat sich vor dem Spiel bereits mehrfach gezeigt. Ende Oktober kletterten mehrere Dutzend vermummte Lok-Leipzig-Fans über den Zaun des Alfred-Kunze-Sportparks, dem Stadion von Chemie. Sie posierten dort und rollten ein Banner aus, auf dem der Derby-Gegner geschmäht wird. Im Gegenzug luden Chemie-Fans das Video angeblich auf Pornoportale hoch, mit dem Hinweis, dass Lok-Anhänger immer zu früh kommen. In der vergangenen Woche kesselte die Polizei rund 100 teils vermummte Lok-Hooligans in der Innenstadt ein. Was sie vorhatten, ist unbekannt. Doch ganz offensichtlich wollten sie ihre Macht in der Stadt demonstrieren.

Das alles wirft ein ungutes Schlaglicht auf die Fußballhochburg Leipzig. Die Stadt beheimatet mehrere große Fanszenen, die ihre Vereine emotional, kreativ, friedlich und witzig unterstützen. Doch parallel dazu hat sich über Jahrzehnte ein veritables Gewaltpotenzial gebildet, zudem gibt es Verbindungen in die rechtsextreme Szene.

Im wilden Nachwendejahr 1990 setzte die Polizei rund um drei Spiele in Leipzig –  bei zwei von Chemie-Vorgänger Sachsen Leipzig und einem von Lok – Schusswaffen ein. Am 3. November starb der Fan des DDR-Rekordmeisters Dynamo Berlin, Mike Polley, durch eine Polizeikugel, die ihn auf dem Bahnhof in Leipzig-Leutzsch unweit des Kunze-Sportparks traf.

Bei den rund ein Dutzend Aufeinandertreffen zwischen Lok und Chemie seit der Wende gab es regelmäßig Ausschreitungen. 2002 entrollten Lok-Fans ein Banner, auf dem sie sich als „Lokisten, Mörder und Faschisten“ bezeichneten. 2006 formierten sich rund 40 Anhänger in einem Block zu einem menschlichen Hakenkreuz. Gewalttäter aus dem Lok-Umfeld waren an der Randale im Januar im Leipziger Stadtteil Connewitz beteiligt – offenbar als eine Art Vergeltung für Anti-Legida-Proteste. Am Wochenende stieg Sachsens Grünen-Chef Jürgen Kasek in einen Zug, in dem rund 200 Lok-Anhänger saßen, die auf der Rückreise nach Leipzig waren. Der Politiker wurde bepöbelt und von einer leeren Plastikflasche am Kopf getroffen. Schließlich verließen er und seine beiden Parteifreunde auf Anweisung der Polizei den Zug.

Die Lok-Verantwortlichen engagieren sich glaubhaft gegen Rechtsaußen. Einfach ist das aber nicht. Die Vereinschefs sprechen von „50 bis 60 Personen, die uns bekannt sind, die immer wieder für Ärger sorgen und den Verein benutzen, um ihre politischen Ziele zu kommunizieren und dabei gezielt dem Verein Schaden zufügen“. Fans seien das nicht, betonten sie nach einem Treffen mit Kasek.

Am Sonntag will ein Polizei-Großaufgebot den Lok-Anhang von den Chemie-Fans, deren Ultras eher linksorientiert sind, trennen. Wer kein Ticket hat, kommt nicht in die Nähe des Sportparks. Lok-Fans sagten den Marsch zum Stadion ab, sie wollen mit Bussen anreisen. Drohende Gewaltszenarien, so haben sich auch Hooligans aus Frankfurt und Berlin angesagt, schrecken die Mehrheit der friedlichen Fans vom Stadionbesuch zwar nicht ab. Die große Sorge ist jedoch, dass es vor und nach der Partie zu Ausschreitungen kommt.

Beide Klubs streben mittelfristig weitere Aufstiege an. Gewalt hemmt den Erfolg – und bringt etliche Leipziger dazu, den umstrittenen Erstligisten Rasenballsport als stressfreie Alternative zu sehen.