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„Bildungsempfehlungen sind nicht objektiv“

Forscher Wolfgang Melzer spricht über frühe schulische Selektion und wie Eltern mit der Qual der Wahl umgehen sollten.

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© Ronald Bonß

Für etwa 30 000 Grundschüler beginnt jetzt eine spannende Zeit: Sie warten auf ihre Bildungsempfehlung. In den nächsten Wochen entscheidet sich, ob sie ans Gymnasium oder die Oberschule wechseln. Im Interview erklärt Professor Wolfgang Melzer vom Institut für Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden, warum die Schulwahl oft Probleme bereitet – und wie das Portal www.schulnavigator.de hier Hilfe bietet.

Herr Melzer, warum ist die Bildungsempfehlung so wichtig für die Entwicklung des Kindes?

Es ist eine Weichenstellung fürs Leben, die eigentlich niemand allein treffen kann. Doch je nach Bundesland sind es entweder die Eltern oder, wie hier in Sachsen, die Lehrer, bei denen de facto die Entscheidung liegt. Insofern ist die Bildungsempfehlung eigentlich keine reine Empfehlung! Mit der Schulform ist eine soziale Selektion verbunden, die auch oft über die berufliche Entwicklung und den Lebenserfolg entscheidet. Und da sie die Kinder sehr früh trifft, ist dies mit vielen Unsicherheiten und zum Teil sogar Ängsten verbunden. Eltern wenden sich mit Zweifeln an uns, etwa wenn ihnen die Gymnasialschulempfehlung verwehrt wurde. Und wenn ich von „ihnen“ rede, zeigt das, wie sehr Eltern involviert sind.

Warum setzen Eltern sich und ihre Kinder hier so unter Druck – ein Wechsel zwischen den Schulformen ist doch auch später noch möglich.

Theoretisch ist das möglich. Praktisch wechselt nur ein sehr kleiner Prozentsatz von der Oberschule ans Gymnasium, auch nur selten nach einem sehr guten Realschulabschluss. Die Oberschulen möchten Schüler mit hohem Potenzial ungern abgeben. Generell ist die Anzahl derer, die in unserem Schulsystem absteigen, etwa doppelt so hoch wie die der Aufsteiger.

In anderen Bundesländern entscheidet der Elternwille über den Schulwechsel. Was halten Sie für geeignet?

Das ist bereits reichlich wissenschaftlich untersucht worden: Es ergeben sich Nachteile bei beiden Varianten. Die Bildungsempfehlung ist alles andere als objektiv. Die Entscheidung der Lehrer ist durch die soziale Herkunft der Eltern eingefärbt. Zudem ist der Notenspiegel in Deutsch, Mathematik und Sachkunde nur ein kleiner Ausschnitt der Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit der Kinder. Doch auch die andere Variante ist problematisch: Haben Eltern selbst keinen hohen Bildungsabschluss, verfolgen sie ihn auch nicht für ihr Kind. Sogenannte untere Sozialschichten bleiben ebenso wie Eliten unter sich.

Was wäre die Alternative?

Die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, dann wären die Prognosen über die Entwicklung der Kinder etwas genauer; in Brandenburg und Berlin etwa erfolgt der Wechsel erst nach der 6. Klasse. Oder Gemeinschaftsschulen zuzulassen – die Pisa-Gewinner sind mit solchen Schulmodellen erfolgreich. Die Selektion in Sachsen erfolgt zu früh. Das ist eine Konstruktion des Bildungssystems, das die Eltern in das Dilemma bringt, so früh entscheiden zu müssen. Es ist verwunderlich, dass sich eine so absurde Idee so lange hält.

Wann sollten Eltern gegen die Bildungsempfehlung Widerspruch einlegen?

Wird die Empfehlung fürs Gymnasium nicht erteilt, müssen die Schüler an einer Eignungsprüfung teilnehmen. Das ist eine schwierige Bewährungssituation mit ungewissem Ausgang und viel Stress für alle Beteiligten. Das Elternrecht ist so stark, dass es wohl immer Mittel und Wege gibt, die Wunschschule durchzuboxen. Aber es ist nicht immer gut für die Kinder. Wichtiger ist, dass Eltern den Übergangsprozess begleiten, nicht erst ab der vierten Klasse. Dass sie die Kommunikation mit der Schule suchen, um nicht von der Entscheidung überrascht zu werden.

Sollten Kinder mit über die konkrete Schulwahl entscheiden?

Im Prinzip ja – es kommt aber auf deren Entwicklung an. Generell sind Kinder heute früher erwachsen, haben sich gesellschaftlich emanzipiert. Deshalb ist es richtig, sie in die Entscheidung einzubeziehen. Ein wichtiger Faktor kann etwa sein, für welche Schule sich die Clique des Kindes entscheidet.

Der Schulnavigator, den Sie mit entwickelt haben, hilft Eltern bei der Schulwahl. In ländlichen Regionen ist die freie Schulwahl jedoch oft eingeschränkt.

Auch in den Städten können Kinder oft nicht an ihre Wunschschule, weil die Klassen überfüllt sind. Gerade in solchen Situationen hilft der „Schulnavigator“: Er zeigt Eltern Profile sowie Stärken und Schwächen der Schulen auf, sagt, wo etwas getan werden muss. Das bietet diesen Eltern, auch wenn sie die Schule ihrer Wahl nicht erreicht haben, Ansatzpunkte dafür, sich an der Schulgestaltung zu beteiligen.

Kritiker sagen, nur unzufriedene Eltern stimmen beim Schulnavigator ab.

Die durchgängig guten bis sehr guten Ergebnisse der Schulen widerlegen diese Auffassung eindeutig. Kritik der Eltern dokumentieren wir sehr behutsam, vorher werden die Ergebnisse der Befragung genau geprüft.

Die letzte Befragungswelle an Gymnasien hat 2014 stattgefunden. Sind die Ergebnisse überhaupt noch aktuell?

Schulklimata sind ja keine labilen Parameter. Einerseits bedarf Schulentwicklung eines langen Atems, aber wenn sich eine Qualität verfestigt hat, bleibt sie beharrlich. Wir haben viele Schulen dabei, die sich Jahr für Jahr beteiligen. Dabei zeigen sich in der Regel nur geringe Abweichungen. Das spricht für die Konstanz der Ergebnisse.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse nach vier Jahren Schulnavigator?

Man freut sich als Wissenschaftler, dass man nicht nur im Elfenbeinturm sitzt, sondern für die Gesellschaft etwas Nützliches tun kann. Bereichernd sind die unterschiedlichen Perspektiven und Vorschläge, die etwa der Landeselternrat oder die Vertreter der Schulen mit eingebracht haben.

Das sächsische Kultusministerium hat sich aufgrund des Lehrermangels entschieden, mit der externen Schulevaluation auszusetzen.

Der Schulnavigator kann diese Lücke nicht füllen, bemüht sich aber darum, schulische Qualität zu evaluieren und zu verbessern. Die Idee beinhaltet beide Aspekte: Bei den Eltern sind Entscheidungsschwierigkeiten da. Um ihnen Orientierung zu bieten, greifen wir auf die Erfahrungswerte anderer Eltern zurück. Zugleich liefern wir den Schulen Daten, mit denen Schulentwicklungsprozesse stimuliert werden können. In welche Richtung soll die Schule gehen? Viele Eltern und Schulen melden sich bei uns und bestärken uns in diesem Weg.

Das Interview führte Franziska Schneider.

Alle Informationen zu den Schulen unter www.schulnavigator.de