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Begehrt, geschmäht und wiederentdeckt

Leipzig-Grünau wird 40. In der DDR waren die Wohnungen gefragt, nach der Wende leerte sich das Viertel. Inzwischen gibt es mehrfach Grund zum Feiern.

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© dpa

Von Theresa Martus

Leipzig. Einmal hätten seine Frau und er nach der Wende überlegt wegzuziehen aus Grünau, sagt Klaus Wagner. „Aber dann hab‘ ich gedacht, hier hast du alle deine Freunde, deine Bekannten.“ Und dann seien sie eben doch geblieben, vier Jahrzehnte nun schon, in Leipzig-Grünau, einer sogenannten Großwohnsiedlung am Westrand der Messestadt. Am 1. Juni feiert Grünau den 40. Jahrestag seiner Grundsteinlegung. Es war einst das zweitgrößte Plattenbauviertel der DDR.

Die Plattenbausiedlung Grünau

Als urbaner Raum mit Schulen, Sporthallen und Versorgungszentren zwischen den Wohnhäusern, so präsentiert sich Leipzig-Grünau (Sachsen) auch 40 Jahre nach der Grundsteinlegung.
Als urbaner Raum mit Schulen, Sporthallen und Versorgungszentren zwischen den Wohnhäusern, so präsentiert sich Leipzig-Grünau (Sachsen) auch 40 Jahre nach der Grundsteinlegung.
Passanten gehen auf der Stuttgarter Allee  durch das DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig.
Passanten gehen auf der Stuttgarter Allee durch das DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig.
Am 01. Juni 1976 wurde der Grundstein für eines der größten Plattenbaugebiete der DDR gelegt.
Am 01. Juni 1976 wurde der Grundstein für eines der größten Plattenbaugebiete der DDR gelegt.
Leerstand und Abriss waren lange Jahre die prägenden Themen in den ostdeutschen Neubauvierteln. Zehntausende Wohnungen wurden abgerissen. Inzwischen stabilisiert sich die Lage in den Wohngebieten.
Leerstand und Abriss waren lange Jahre die prägenden Themen in den ostdeutschen Neubauvierteln. Zehntausende Wohnungen wurden abgerissen. Inzwischen stabilisiert sich die Lage in den Wohngebieten.
Wie eh und jeh parkt ein Lada am 30.05.2016 auch 40 Jahre nach der Grundsteinlegung für das Neubaugebiet Leipzig-Grünau (Sachsen) vor der Großplatte. Am 01. Juni 1976 wurde der Grundstein für eines der größten Plattenbaugebiete der DDR gelegt.
Wie eh und jeh parkt ein Lada am 30.05.2016 auch 40 Jahre nach der Grundsteinlegung für das Neubaugebiet Leipzig-Grünau (Sachsen) vor der Großplatte. Am 01. Juni 1976 wurde der Grundstein für eines der größten Plattenbaugebiete der DDR gelegt.
Als urbaner Raum mit Schulen, Sporthallen und Versorgungszentren zwischen den Wohnhäusern, so präsentiert sich Leipzig-Grünau (Sachsen) - 40 Jahre nach der Grundsteinlegung.
Als urbaner Raum mit Schulen, Sporthallen und Versorgungszentren zwischen den Wohnhäusern, so präsentiert sich Leipzig-Grünau (Sachsen) - 40 Jahre nach der Grundsteinlegung.
Blick auf Wohnblöcke in der Stuttgarter Allee im DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig.
Blick auf Wohnblöcke in der Stuttgarter Allee im DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig.
Blick auf einen DDR-Plattenbau in Grünau.
Blick auf einen DDR-Plattenbau in Grünau.
Abrissarbeiten an einem DDR-Plattenbau im Jahre 2013 in Leipzig.
Abrissarbeiten an einem DDR-Plattenbau im Jahre 2013 in Leipzig.
2010 parkte auch noch ein Trabant 601 vorm Plattenbau im Leipziger Stadtteil Grünau.
2010 parkte auch noch ein Trabant 601 vorm Plattenbau im Leipziger Stadtteil Grünau.
2007 wurden im Stadtteil Grünau 731 Wohnungen abgerissen.  Als die Wohnblöcke ab 1976 entstanden, war ein großer Bedarf an Wohnungen vorhanden, da die Altbauten in der Stadtmitte noch nicht saniert waren.
2007 wurden im Stadtteil Grünau 731 Wohnungen abgerissen. Als die Wohnblöcke ab 1976 entstanden, war ein großer Bedarf an Wohnungen vorhanden, da die Altbauten in der Stadtmitte noch nicht saniert waren.
Ein Mann beobachtet 2003 im Leipziger Stadtteil Grünau die Abrissarbeiten an einem in den 80-er Jahren erbauten 16-geschossigen Plattenbau. Das Hochhaus mit seinen 132 Wohnungen gehörte zu 10 Plattenbauten, die abgerissen werden sollten.
Ein Mann beobachtet 2003 im Leipziger Stadtteil Grünau die Abrissarbeiten an einem in den 80-er Jahren erbauten 16-geschossigen Plattenbau. Das Hochhaus mit seinen 132 Wohnungen gehörte zu 10 Plattenbauten, die abgerissen werden sollten.
2001 wird eins der 16-geschossigen Punkthochäuser im Leipziger Neubaugebiet Grünau zurückgebaut, Es konnte nicht gesprengt werden, da sich in unmittelbarer Nähe ein Supermarkt, eine Tankstelle und andere Wohnhäuser befinden.
2001 wird eins der 16-geschossigen Punkthochäuser im Leipziger Neubaugebiet Grünau zurückgebaut, Es konnte nicht gesprengt werden, da sich in unmittelbarer Nähe ein Supermarkt, eine Tankstelle und andere Wohnhäuser befinden.

Wagner, 73 Jahre alt, war einer der ersten Mieter. Der neue Stadtteil trug im Volksmund den Spitznamen „Schlammhausen“, von Grün war in den Anfangsjahren wenig zu sehen. Es musste schnell gehen. Allein in Leipzig fehlten 30 000 Wohnungen. „Ich wohnte vorher in einer Mansarden-Wohnung in der Südstadt“, erzählt Wagner, „das Dach war undicht.“ Die Zuteilung für eine Wohnung in Grünau sei ein Glücksfall gewesen, meint der Rentner, der sich heute im Quartiersrat engagiert. „Warmes Wasser aus der Wand, nie mehr Kohlen in den fünften Stock schleppen.“

Acht Wohnkomplexe von Häusern mit 6, 11, 16 Etagen – nach Berlin-Marzahn war Grünau das größte Neubaugebiet. Als es Mitte der 1980er-Jahre fertig geworden war, wohnten rund 85 000 Menschen dort. Einer von ihnen war Matthias Möbius, Pfarrer der evangelischen Gemeinde im Viertel. „Ich wollte hierher, ich wollte hinter den Beton schauen. Das Gebiet wurde nach 1989 in den Medien beschrieben, als würde hier der asoziale Rand der Gesellschaft wohnen, aber das war nicht so“, sagt er. „Hier lebten Arbeiter, aber auch viele Funktionäre, Professoren, Ärzte.“

Ein Arzt in seinem Haus, berichtet Klaus Wagner, war der Erste, der nach der Wende auszog. Innerhalb weniger Jahre halbierte sich die Bevölkerungszahl, Leerstand prägte das Bild. Es folgte der Rückbau. In Grünau wurden 6 800 Wohnungen abgerissen, von ehemals 19 Hochhäusern stehen heute noch fünf. 2007 ging die Stadt Leipzig in einer Entwicklungsstrategie noch von „voraussichtlich weiter entstehenden Leerständen“ und einer Verkleinerung des Stadtteils aus. „Das Image des Stadtteils war nicht gut“, meint Wagner.

Inzwischen wächst Grünau wieder. 2 500 Menschen sind in den vergangenen fünf Jahren in die Siedlung gezogen. „Unter denen, die jetzt kommen, stechen zwei Gruppen heraus“, sagt Sigrun Kabisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. „Zum einen junge, gut ausgebildete Leute, die ganz neu zum Stadtteil finden, zum anderen die Rückkehrer – Leute, die hier ihre Kindheit verbracht haben.“ Und: Leipzigs Bevölkerungszahl wächst weiter, Grünau wird also gebraucht.

Gut, dass wieder neue Leute kommen und frische Ideen, findet Pfarrer Möbius. Aber harmonisch werde das Zusammenleben nicht von allein. „Die Leute, die schon sehr lange hier sind, sind sehr stolz“, sagt er. Wer neu dazu kommt, werde sich Grünau erarbeiten müssen, so wie die Generationen davor. „Die haben sich damals alles aufgebaut, sich aus nichts Rituale geschaffen“, so Möbius. „Sie haben sich den Beton geschmeidig gemacht.“ (dpa)