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Bauen statt hauen

Judith arbeitet mit Kindern aus sozialen Brennpunkten in Leipzig-Grünau. Sie macht viel mit in ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr und verdient wenig.

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Von Ute Meckbach

Sie könnte auch in einer aufregenden Großstadt als Au-Pair jobben und abends um die Häuser ziehen. Oder wie ihr Vater Medizin studieren und Karriere machen. Macht sie aber nicht. Judith Fabianek, 21 Jahre alt, hat sich für Leipzig-Grünau entschieden. Wo in den Plattenbauten die meisten Familien von der Stütze leben. Wo sich die Kinder mit „Hi, du Hartzer!“, „Na, Du Arschpickel!“ und „Hurensohn“ begrüßen.

Die rotblonden Haare zum Zopf gebunden und immer etwas in Eile, fährt Judith morgens mit der Straßenbahn an den Rand der Stadt, vorbei an kaputten Telefonzellen, am Rewe, dem Asylbewerberheim und einer Filiale der Leipziger Tafel. Judiths Arbeitsstelle ist das offene Kinderhaus der Caritas, wo sich die sechs- bis 14-jährigen Kinder aus der Nachbarschaft nach der Schule treffen, Holzhäuser bauen und abhängen. Nach 13 Jahren Schule und einem missglückten Studierversuch absolviert sie hier ein Freiwilliges Soziales Jahr, das zum Programm der „Jesuit European Volunteers“, dem Europäischen Freiwilligenprogramm der Jesuiten (JEV), gehört. Sie hat sich verpflichtet, in diesem Jahr den Verzicht zu üben und mit 80 Euro Haushalts- und 130 Euro Taschengeld monatlich auszukommen. Mit einer anderen Freiwilligen lebt sie in einer Wohngemeinschaft ohne Fernseher und Internet. Mit ihrem Betreuer, einem Jesuitenpater, bespricht sie regelmäßig die Probleme auf der Arbeit und Glaubensfragen. Und sie hat einen Förderkreis aufgebaut, der sie unterstützt. „Jetzt möchte ich Kindern, deren Lebensumstände schwerer sind als meine, etwas von meinem Vertrauen ins Leben abgeben“, schreibt sie in ihrem ersten Rundbrief.

Judith wirkt, als sei sie immer auf dem Sprung, als hätte sie nebenan einen Topf Milch auf dem Herd, der überzukochen droht. Hinauf zum Eingang des Kinderhauses nimmt sie zwei Treppenstufen auf einmal. Die Wände sind von Kinderhänden bunt bemalt, auf einer Collage der Slogan des Hauses: „Bauen statt hauen.“ Draußen von wilden Hecken umgeben der Bauspielplatz mit selbst errichteten Bretterbuden, einem Kräutergarten und einer Feuerstelle. Drinnen im Haus, Marke Plattenbau, die Küche, das Wohnzimmer mit Lümmelsofas, im Keller die Fahrradwerkstatt, Bohrmaschinen und ölige Luft. Im Kreativraum liegen Pappmaschee-Masken der von Judith organisierten „Insektenflirtparty“ herum, darunter ein Marienkäfer in Gelb mit schwarzen Punkten, sein Besitzer wollte das so. Judith ist stolz, dass er es so weit gebracht hat, egal mit welchen Farben. „Die sind hier nicht sehr geduldig“, sagt sie.

Steven*, 13 Jahre alt, steht barfuß im Toberaum und flucht, vor seinem Bauch baumeln die Kopfhörer seines MP3-Players. Er versucht, ein Blatt Papier achtmal zu falten. Judith schaut ihm lachend zu und ruft: „Du schaffst das nicht, aber ich glaub an dich!“ Das könnte ein Leitspruch sein für die Arbeit, die sie hier machen. Im Toberaum stinkt es nach Schweißfuß, Judith, die Optimistin, findet, „es riecht nach Hamster“.

Je nach Wetter und Laune

30 bis 40 von etwa 100 Stammkindern kommen jeden Tag in das offene Kinderhaus, je nach Wetter und Laune. Die Hälfte lebt nebenan im Asylbewerberheim, so wie der 14-jährige Förderschüler Khaled aus dem Libanon. Auf dem Bauspielplatz hat er die Moschee gebaut, und den Halbmond selbst angeschweißt, was ihm Anerkennung einbrachte. Neben der Moschee steht eine Kirche, drumherum 15weitere Holzhütten, krumm und schief, manche mehrstöckig, mit Dachterrassen, Gärtchen und Balkons. Jedes Kind, das hier ein Haus bauen möchte, darf das tun. Wenn es fertig ist, ist es seins. Es bekommt Nägel, Hammer, Brecheisen, Spaten und Unterstützung von den Betreuern. Später wird das Haus wieder abgerissen, die verwendeten Bretter entnagelt und für einen neuen Bau verwendet. Es geht ums Bauen, nicht ums Wohnen. Judith freut sich über den Ehrgeiz, den die Kinder entwickeln: „Viele denken am Anfang, sie schaffen das nicht“, erzählt sie. „Und dann schaffen sie es doch.“

Steven, der Papierfalter, sechste Klasse, eigentlich siebte, will heute mit seinem zweiten Haus beginnen, Judith soll ihm helfen, „die ist total nett und hilfsbereit“. Er sagt, er käme hauptsächlich aus Langeweile her und wegen des kostenlosen Mittagessens. Sein Zuhause beschreibt Judith als Katastrophe. Alle anderen Familienmitglieder seien schon mal im Knast gewesen. Die Schwester bekam mit 15 ein Kind. Der Vater prügelt. Steven flüchtet zum „Baui“, wie viele junge Besucher das Kinderhaus nennen. Als Steven Judith neulich – ganz im Ernst – zur Begrüßung fragte: „Wie geht’s dir?“, bekam sie eine Gänsehaut und freute sich. Ihr Bestreben, in möglichst allen Dingen etwas Gutes zu finden, kommt Judith zugute. Auch ihr Humor.

In einem Rundbrief an den Förderkreis hat sie ein Gespräch zum Thema „Berufswunsch“ wiedergegeben. Sie hatte sich verhört: „Ich: Was willst du machen, wenn du mit der Schule fertig bist? Das Kind: Ich werde Haustierfänger. Ich: Haustierfänger … aha, den Beruf kenn ich ja gar nicht. Was macht man denn da? Haustiere fangen? Das Kind: Hä? Ich hab gesagt, ich werde Hartz-IV-Empfänger.“

Die Lebensgeschichten der „Baui“-Kinder entstammen einer anderen Welt als der von Judith. Sie hat hier noch keinen getroffen, der nicht mindestens eine Klasse wiederholen musste. Wo würden die Kinder stehen, wären sie in einem anderen Umfeld aufgewachsen?, fragt sie sich. Und: Was wäre aus mir geworden, hätten sich meine Eltern nicht um mich gekümmert, hätten selbst nicht studiert sondern nur die Hauptschule besucht? Sie sagt, sie habe ein „tolles Elternhaus“, sei als älteste von drei Schwestern ein Familienmensch und „linkskatholisch sozialisiert“. Ihre Mutter, eine Journalistin, habe sich Zeit genommen für die Töchter und deren Fragen an das Leben. Der Vater, ein Psychiater, sorgte für materiellen Wohlstand. Die Großmutter betete mit ihr. Judith war Messdienerin, spielte Gitarre und Basketball, rauchte nie, machte sich nichts aus Alkohol, und wenn es mal Ärger gab, ging sie leise die Treppe hoch in ihr Zimmer. „Ich habe meine Eltern noch nie angeschrien“, erzählt sie. „Nicht mal in der Pubertät.“

Die Kinder im Familienzentrum schreien sich dauernd an, und sie schlagen sich auch, bis sie Hausverbot bekommen. „Beleidigt wird hier so viel, dass ich das meiste gar nicht mehr so krass finde“, berichtet Judith. Bei „Dumme Kuh“ oder „Arschloch“ – da sagt sie nichts mehr. Aber als die Kinder sie anfangs „Jude“ statt „Judith“ nannten und Pascal sie wie alle Mädchen und Frauen nur mit „Weib“ ansprach, das ließ sie sich nicht bieten. Pascal musste pro „Weib“ fünf Cent an Judith zahlen und hat es sich ganz schnell abgewöhnt.

Mutig und konsequent

Die Mitarbeiter des Hauses loben Judith als „Idealbesetzung“. Sie sei mutig mit den Kindern, setze klare Grenzen und bringe sich gern ein. Nur manchmal müsse man ihr begreiflich machen, dass sie nicht alles durchsetzen könne, was sie richtig findet. In einer Teamsitzung erzählte sie von einem Mädchen, dessen Mutter im Familienzentrum an einem Kurs teilnahm. Es war neun Monate alt, konnte nicht krabbeln, nicht sitzen, nicht einmal seinen Kopf alleine halten. Von der Mutter erfuhr Judith, dass sie ihr Kind oft in ein dunkles Zimmer legte, damit sie in Ruhe ihre Fernsehserien schauen konnte. Judith sah das Kindeswohl gefährdet und wollte das Jugendamt informieren. Die Kollegen sagten Nein. Weil die Mutter sich Mühe gebe und ihr alles im Vertrauen erzählt habe, dürfe man nicht eingreifen.

Pascal und Steven holen Holzkisten aus dem Keller, wollen Lagerfeuer machen. Judith hat’s erlaubt. Pascal, vierte Klasse, eigentlich sechste, „wegen LRS“, findet’s auf dem Bauspielplatz „geil“. „Weil man hier so richtig die Wut rauslassen kann mit den Nägeln und dem Hammer und alles.“ Er kommt so oft wie möglich und bleibt, bis 18Uhr geschlossen wird. Er hat hier seine Freunde und mit den Ausländern versteht er sich inzwischen auch ganz gut. Eine Zeit lang hätten sie sich wie Glasmüllsorten angeredet, „die waren Braunglas und wir Weißglas, das war total lustig“. Das dürfen sie jetzt nicht mehr. Steven und Pascal kicken die Kisten an der Feuerstelle durch die Gegend, dreschen mit Spaten drauf. Sie sollen vorsichtig sein und langsam mal aufräumen, ruft Judith. Ein Mädchen kommt dazu, 13Jahre alt, sechste. Klasse. Mit Holzspänen spielt sie Schlagzeug auf den Köpfen von Steven und Pascal und schreit: „Eh, ihr müsst aufräumen, ihr Behindis!“

„Wenn 40 Kinder den ganzen Nachmittag da sind, bin ich nachher platt“, sagt sie. „Das ist so hart, wie unter Tage zu arbeiten.“ Am Abend fällt sie müde ins Bett, liest noch was. Von der Wand schaut ihr die Familie dabei zu, dort hängen Fotos von den Schwestern, Eltern und ihrem verstorbenen Großvater, den sie so gern mochte. Das Zimmer ist aufgeräumt, der grüne Teppich fusselfrei. Auf dem Fußboden liegen kopierte Zeugnisse und Praktika-Bescheinigungen in akkuraten Dreierreihen: Bewerbungsunterlagen für die Unis. „Das Freiwillige Soziale Jahr bei den JEVs hat viel gebracht“, meint Judith. Sie wird ab Oktober in Köln Soziale Arbeit studieren.

*Die Namen der Kinder sind alle geändert.