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Aus dem Tagebuch der Wölfe

Wölfe hinterlassen Spuren in Sachsen. Experten lernen aus Bewegungen und Aktivitäten viel über den Alltag der Tiere. Der ist anders, als so mancher das wohl vermutet.

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© privat

Von Irmela Hennig

Insgesamt 32 Schafe haben Wölfe in drei Nächten Anfang Oktober im Raum Ralbitz-Rosenthal bei Kamenz gerissen. Es war ein deutliches Zeichen des Rosenthaler Rudels, von dem es zuvor über längere Zeit kaum noch Spuren gegeben hatte. Reichlich ein Jahr, nachdem das Rudel schon einmal mit vielen Angriffen auf Schafe und Ziegen aufgefallen ist, geraten die Tiere nun wieder in den Blick – und in die Schlagzeilen. Die Risse, so negativ sie für die Besitzer der Nutztiere sind, zählen zu den vielen Puzzleteilchen, aus denen die Wolfsexperten der Oberlausitz ein Bild von den Tieren in der Region zusammensetzen. Die Biologen vom Lupus Institut für Wolfsforschung können beinahe so etwas wie ein Tagebuch der Lausitzer Wölfe verfassen. Wir stellen einige Erkenntnisse daraus vor.

Von wegen Wald: Die Hälfte eines Rudelgebietes sind Felder und Wiesen

Wölfe jagen und leben in Territorien. Jedes Rudel hat sein Hoheitsgebiet. Aus dem werden Konkurrenten vertrieben, wenn sie sich reintrauen. Die Untersuchungen der Wolfsforscher zeigen: In Sachsen machen Felder und Wiesen etwa die Hälfte eines Rudelgebietes aus. 35 Prozent sind Wald. Aber dort verbringen die Vierbeiner 80 Prozent ihrer Zeit. In Feld und Flur nur 15 Prozent. Wasserflächen und Feuchtgebiete, die es in der Oberlausitz teils reichlich gibt, liegen zwar in den Revieren. Die meiden die Räuber aber meist, sagte Ilka Reinhardt kürzlich auf einer Pressekonferenz zum Wildtier. Vier Prozent eines Wolfsterritoriums liegen im Schnitt in Dörfern und Gemeinden. Dort halten sich die Tiere aber kaum auf. Mithilfe von Sendern haben die Experten Wölfe zwei Jahre lang immer wieder geortet. Von den 5 112 Standortnachweisen lagen nur drei in Ortschaften.

Den ganzen Tag auf der faulen Haut – zumindest die Alten halten es so

Wölfe sind nachtaktiv. Das können die Biologen von Lupus beinahe zu hundert Prozent bestätigen. Sie haben Wölfe über 48 Stunden genau beobachtet. Zwischen acht und 18 Uhr sind die Tiere wenig und zwischen 10 und 16 Uhr so gut wie gar nicht unterwegs. Sie jagen und laufen vor allem nachts bis hinein in die Morgendämmerung. „Die Wölfe passen sich damit an die Kulturlandschaft an“, sagt Biologin Ilka Reinhardt. Sie versuchen, Begegnungen mit dem Menschen zu vermeiden. Jungtiere – die noch nicht so angepassten – sind hingegen eher auch mal am Tag auf Achse. Übrigens, in anderen Regionen der Welt, wo der Wolf kaum auf Menschen trifft, jagen die Raubtiere durchaus tagsüber.

Wölfe verlieren die Scheu vor dem Menschen nicht

Es gebe Oberlausitzer, die seien regelrecht empört, wenn sie einen Wolf sehen. So erzählt es Ilka Reinhardt vom Lupus-Institut. Aber bei 16 Rudeln und Paaren in der Region ist es nicht unwahrscheinlich, einem Wolf zu begegnen. „Meistens sieht man sie vom Auto aus. Und da sind Menschen für Wölfe nicht als Menschen erkennbar“, so Ilka Reinhardt. Ihre Erfahrung zeigt, Wölfe verlieren die Scheu vor dem Menschen normalerweise nicht. Weglaufen ist die übliche Reaktion, aus der Ferne beobachten und dann geordnet den Rückzug antreten, ebenso. Sind Spaziergänger mit Hund unterwegs, könne der Hund die Neugier des Wolfes wecken. Aber sobald der Wolf den Menschen als Begleiter entdeckt, verschwindet er. Ist ein Wolf sehr am Menschen interessiert, kommt ihm gar nahe, ist er wahrscheinlich als Jungtier gefüttert worden. Das ist vor einiger Zeit in Niedersachsen geschehen. Dort wurde ein auffälliger Rüde darum erst mit einem Sender ausgestattet und schließlich geschossen.

In Familie darf sich ein neues Rudel auch mal dazwischenquetschen

In Deutschland ist Platz ohne Ende für Wölfe – bis zu 440 Rudel könnten hier heimisch werden. Doch immer wieder quetschen sich neue Familien zwischen bestehende Rudel ins Oberlausitzer Gebiet hinein. So das Kollmer Rudel, das es etwa zwei Jahre lang zwischen dem Nieskyer und dem Daubaner Rudel gab. Die Fähe kam aus dem Daubaner, der Rüde aus dem Nochtener Rudel. Das Kollmer Rudel ist aber verschwunden. Anhand von genetischen Daten konnten die Experten nachweisen, dass nun das Nieskyer Rudel auf dem Kollmer Gebiet unterwegs ist. Eine Tochter aus dem Milkeler Rudel hat bei Knappenrode – nahe der Eltern – eine Familie gegründet. Die Wölfe vom Milkeler Rudel sehen das nicht gern, lassen sie aber gewähren. Es liegt wohl an den engen verwandtschaftlichen Beziehungen der Wölfe, dass sie so viel Nähe akzeptieren. Die Dichte sei zudem ein Indiz dafür, dass es genug Wild und Nahrung für alle gebe. Wo sich das nächste Rudel etabliert, können die Experten nicht sagen.

Fotos zeigen die Jungen, aber eben nicht immer

Vor allem Bilder aus Fotofallen zeigen, wo Wölfe Nachwuchs haben. Welpenaufnahmen gibt es derzeit von fünf Oberlausitzer Rudeln, bei zwei weiteren haben Fotos die Fähe mit Gesäuge gezeigt. Bei den anderen Familien ist unklar, ob Junge geboren wurden. Fotos, genetische Daten aus Kot und von gerissenen Tieren, Fußspuren, Beobachtungen – aus diesen Elementen setzen die Forscher ihr Bild zusammen. Eines der wichtigsten Hilfsmittel können sie in Sachsen derzeit nicht nutzen – Sender. Über mehrere Jahre wurden Wölfe damit ausgestattet. So konnte beobachtet werden, wo ihre Territorien liegen, wann sie jagen, wie weit sie laufen. Und vieles mehr. Doch die beiden praktikabelsten Methoden, um Wölfe fürs Besendern zu fangen, sind im Freistaat verboten. Fußfallen – die Soft-Catch-Traps – verbietet die EU, weil sie als Tellereisen gelten. Seit Jahren bemühen sich die Forscher um eine Ausnahmegenehmigung. Aber noch geht nichts voran. Fußschlingen wären eine Alternative. Doch die erlaubt das Jagdrecht nicht – Sachsen ist das einzige Bundesland, das den Wolf ins Jagdrecht aufgenommen hat.