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Auf Streife im Bandenrevier

In der Leipziger Eisenbahnstraße treffen Kulturen aufeinander. Manchmal knallt es. Die Polizei setzt auf Entspannung.

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© Sebastian Willnow

Von Sven Heitkamp, Leipzig

Holger Schmid ist ganz beseelt. Zwillings-Jungs in identischen schwarzen Lederjacken, osteuropäischer Akzent, höchstens fünf Jahre alt, stürmen auf den Hauptkommissar zu, ziehen ihre geringelten Wollhandschuhe aus. Nur um ihm die Hand zu geben und „Hallo“ zu sagen. Sie sind stolz wie Bolle. Schmid und seine Kollegin Sibylle Möser tragen ein Lächeln bis rauf zu den Ohren.

Eine Szene wie im Vorabendfilm, auch sie gehört zur Eisenbahnstraße, an einem Donnerstagmittag, im kriminellen Brennpunkt Leipzigs. Seit ein paar Jahren kommt es unweit des Hauptbahnhofs schon mal zu Schießereien auf offener Straße, Schlägereien, Schwerverletzten, meist sind es Auseinandersetzungen von Menschen, die aus anderen Ländern stammen. Ein Boulevardsender stempelte die Eisenbahnstraße sogar zu „Deutschlands schlimmster Straße“ ab. Holger Schmid ärgert das.

Nachdem Ende Juni eine 20 Mann starke syrische Truppe mit Döner-Messern und gespickten Zaunlatten Hatz auf eine irakische Großfamilie machte und mehrere Menschen, darunter eine junge Frau, teils schwer verletzt wurden, reagierten Rathaus und Polizei. Im „Info Center Eisenbahnstraße ICE“ richteten sie einen Außenposten ein: ein zwölf Quadratmeter kleines Hinterzimmer. Montags bis donnerstags gehen zwei Bürgerpolizisten Streife. Ihre Mission: Präsenz zeigen, Vertrauen aufbauen, Vorurteile abbauen, Wohlfühlatmosphäre schaffen. Eine „Mission Impossible“, ein unmöglicher Auftrag?

„Man braucht einen langen Atem“, sagt Holger Schmid, der die Außenstelle leitet. „Wir können keine Wunder vollbringen und werden die Drogenprobleme nicht allein beenden.“ Die Probleme liegen auf der Hand. Die Ladenstraße, einst an der Bahnlinie Leipzig-Dresden gebaut und bis 1991 Ernst-Thälmann-Straße genannt, ist kein gut betuchtes Pflaster mehr. Armut, Jugendarbeitslosigkeit, Drogen. Auch der Ausländeranteil ist hoch. „52 Prozent Migrationsanteil“, sagt Holger Schmid.

Im Viertel wohnen Menschen aus mehr als 100 Nationen zusammen – allerdings fast immer friedlich. Vorm Café Divan begrüßen sich Männer mit „Salem Aleikum“, an der roten Fußgängerampel wartet ein Mann mit Turban, Frauen mit Kopftuch suchen vorm Laden mit orientalischen Lebensmitteln Gemüse aus. Auf anderthalb Kilometern reihen sich Geschäfte, Vereine und Gemeinden aus der ganzen Welt: Juwelier Al-Amir verkauft Gold aus Dubai, das Korea-Haus lädt zu Gottesdiensten ein und bietet Zutaten für das Reisgericht Bibimbap, die Shisha-Bar „Wunderlampe“ steht neben der russischen Videothek, und mittendrin residieren der Fanfarenzug Leipzig und das Kindererlebnisrestaurant, die Dominikanerinnen von Bethanien und das Seniorenbüro „Inge und Walter.“

Ein Streifzug mit Holger Schmid und Sibylle Möser eröffnet einen Blick durchs Schlüsselloch des Reviers. An der ersten Ecke spricht sie eine zierliche Frau an: „Dahinten im Karton liegt eine Spritze. Müsste mal einer wegräumen, eh Kinder sie nehmen.“ Schmid findet zwar, das könnten auch die Menschen selbst tun, beräumt den Karton aber in der nächsten Mülltonne. Optiker Volkmar Maul, fast 65, führt den Laden seines Vaters seit 1978 und hat die Ruhe weg. „Wir fühlen uns hier wohl“, sagt er. „Multikulti belebt doch, und die lassen die Deutschen in Ruhe.“ Angst? Wovor! Schräg gegenüber führt Jabbary Simko seinen Supermarkt „Internationale Lebensmittel“ seit 1997. Der Iraker lacht viel, sein Laden ist voll, mit dem Ärger auf der Straße, hat er nichts zu schaffen, sagt er.

Künstler und „Volxküchen“

Gefühlt alle fünf Minuten fährt ein Polizeibus durch die frisch sanierte Straße. Manchmal haben die Beamten von der Einsatzgruppe „BaZe“ („Bahn-Zentrum“) allerdings auch Großeinsatz: Am 7. Juli vorigen Jahres, einem gewöhnlichen Montagabend, schoss gegen 18.30 Uhr ein 29-jähriger Iraner zwei Mazedoniern mit Gummigeschossen in die Beine. Es geschah vor einem Gemüseladen an der Ecke Hildegardstraße, der Platz ist videoüberwacht. Der Schütze meldete sich am nächsten Morgen mit der Waffe bei der Polizei. Im Oktober traf sich eines der Opfer auf dem Aldi-Parkplatz mit einem Freund des Iraners, es löste sich ein Schuss in den Schuh, helle Aufregung. Im März ging ein Tunesier vor einer Spielothek mit einem scharfen Gegenstand auf einen Landsmann los. Auch blutige Schüsse in anderen Ecken der Stadt werden mit der Szene in Verbindung gebracht.

Offenbar geht es immer wieder um Machogehabe und Familienehre, um Bandenkriege und Drogenreviere. Die Rivalitäten werden untereinander ausgetragen – nicht mithilfe der Staatsmacht. „Man empfängt uns nicht mit offenen Armen“, sagt Kommissar Schmid. In manchen Herkunftsländern gelten Polizisten eben als korrupt und als brutal und nicht als Freund und Helfer. Viele sprechen ohnehin nur gebrochen deutsch, spätestens, wenn sie vor einer Uniform stehen. Und erst recht, wenn eine Frau drinsteckt.

Doch die meisten Häuser im Quartier sind mittlerweile saniert, manche konnten die ausländischen Ladeninhaber kaufen. Das Viertel zieht auch Studenten und Künstler an, es gibt erste Galerien und Ateliers, auch zwei „Volxküchen“ haben eröffnet. Die berühmt-berüchtigte Gentrifizierung deutet sich an: Der Anstieg des Preisniveaus, die Abwanderung ärmerer und der Zuzug wohlhabenderer Menschen. Wenn sie Anzeigen aufnehmen im Außenposten der Polizei, geht es oft sehr normal zu. Geklaute Fahrräder, Nachstellung, Sachbeschädigung. Ein Raub kam nur einmal vor – in mehr als drei Monaten.