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Arbeitslos und altersarm

Frauen ohne Job posieren als Models auf dem Laufsteg oder begleiten Rentner im Alltag. Der Arbeitsloseninitiative Sachsen gehen die Ideen nicht aus. Doch oft kommen sich die Protagonisten wie Bettler vor.

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© dpa

Von Jörg Schurig

Plauen. Marion Schneider ist 54 Jahre alt und hat ein für viele Ostdeutsche typisches Schicksal. Bis zur Wende arbeitete sie als Wirkerin im Miederwerk Pausa. Der kleine Ort gehörte damals noch zu Thüringen und wechselte 1992 nach Sachsen. Zu diesem Zeitpunkt war das Werk wie viele Betriebe der Textilindustrie im Osten bereits Geschichte. Schneider hatte wie etwa 50 andere Kolleginnen ihren Job verloren. Nach der Geburt ihres Jungen blieb sie erstmal zu Hause, das Kind zog sie später als Alleinerziehende auf. Was folgte, war ein Kreislauf aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Lehrgängen, Ein-Euro-Jobs und anderen Notbehelfen. Er dauert bis heute an.

„Ich habe immer etwas gemacht, war nie groß zu Hause, aber immer arbeitslos“, blickt Marion Schneider zurück. Als ABM-Teilnehmerin arbeitete sie viel bei Projekten im Wald. Die Hoffnung, irgendwann wieder einen „richtigen“ Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, habe lange angehalten, erzählt die Frau: „Große Sprünge waren auch später mit Hartz IV nicht drin.“ Einen richtigen Urlaub an der See oder in den Bergen hat sie schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr gemacht. Meist erholte sie sich bei ihrer Schwester. Schneider ist sich nicht sicher, ob ihr Sohn etwas vermisst hat: „Er kannte es nicht anders.“

Heute arbeitet sie ehrenamtlich bei der Tafel in Plauen - einem Projekt, das Bedürftige aus dem Vogtland mit Lebensmitteln versorgt. Außerdem geht sie jeden Tag putzen, im Sommer wie im Winter muss sie dafür um 4.30 Uhr aufstehen. Alle ihre Hoffnungen richten sich nun auf ein Vorhaben, das über den Europäischen Sozialfonds finanziert wird und von der Arbeitsloseninitiative Sachsen (ALI) mit Sitz in Pausa (Vogtland) betreut wird. Wenn es im kommenden Jahr damit klappt, könnte Schneider erstmals seit Langem wieder ein nennenswertes eigenes Einkommen beziehen. Es würde dann etwa 600 Euro im Monat betragen. Geld, über das Frau Schneider glücklich wäre.

„Wir bedauern Arbeitslose nicht, wir machen etwas mit ihnen“, sagt ALI-Geschäftsführerin Konstanze Schumann und spricht von Hilfe zur Selbsthilfe. Der von ihr geleitete Verein arbeitet gemeinnützig und kann auf etwa 100 vorwiegend ehrenamtliche Mitarbeiter zurückgreifen. Aber er hat auch so manche Kosten wie eine normale Firma zu stemmen. Essen für die Tafel holt ALI selbst aus Dresden und Bayreuth. Weil dafür Transporter mit Kühlaggregaten erforderlich sind, lässt sich vieles nicht mal so nebenher privat organisieren. Um alles zu finanzieren, sind Sponsoren notwendig. „Was wir bräuchten, ist eine nachhaltige Finanzierung“, erklärt Schumann.

„Wir kommen uns manchmal wie Bettler vor. So als müssten wir uns für unsere Arbeit rechtfertigen“, sagt Waltraud Klarner, Chefin der Tafel in Plauen. Dabei würden die verschiedenen Projekte der Initiative zum sozialen Frieden in der Region beitragen. Die 59-Jährige ist von Beruf Diplomingenieurin für Landwirtschaft und gehört wie die frühere Ökonomin Schumann zu den guten Seelen von ALI. Insgesamt 650 Warenkörbe werden jede Woche von Montag bis Freitag gepackt und in Plauen und zehn weiteren Ausgabestellen an Bedürftige verteilt. Brot, Semmeln, Milch, Konserven, aber auch Naschereien für Kinder sind darin enthalten. Klarner schätzt den Wert der Pakete auf je 30 Euro, die Empfänger müssen nur 4 Euro bezahlen.

Im Plauener Kompetenzzentrum von ALI gibt es außerdem eine Kleiderkammer, eine Suppenküche und Beratungen, die sozial schwache Menschen bei Behördengängen, Bewerbungen oder dem Ausfüllen von Anträgen helfen. Die Kleiderkammer hat rund 150 Stammkunden, die Suppenküche kocht täglich etwa 60 Essen. Zunehmend nutzen auch Asylbewerber und Flüchtlinge das Angebot. Schumann und Klarner sehen die sozialen Spannungen zwischen bedürftigen Deutschen und ausländischen Bedürftigen steigen. Manchmal werde der Frust auf jene abgeladen, die noch schwächer sind. Wenn Aggressivität ALI-Mitarbeiter betrifft, gilt als Devise erst mal „Ruhe bewahren!“.

Vereinsamung bis Verwahrlosung

Klarner benennt Schattenseiten langer Arbeitslosigkeit. Es komme zur Vereinsamung und in manchen Fällen auch zur Verwahrlosung. Etwa 25 Prozent der Langzeitarbeitslosen hätten wohl resigniert. Einem kleinen Prozentsatz Betroffener unterstellt sie, nicht wirklich mehr arbeiten zu wollen. In der Vereinssatzung ist vermerkt, dass sich ALI auflöst, wenn die Arbeitslosigkeit unter fünf Prozent fällt. Nach Lage der Dinge wird der Verein notgedrungen „krisensicher“ bleiben. Denn schon jetzt rückt eine neue Klientel in den Blickpunkt der Betreuung. Es sind jene Frauen und Männer, die nach der Wende lange arbeitslos waren und nun vor der Altersarmut stehen.

Dennoch ist bei ALI keine depressive Grundstimmung zu spüren. Im Kompetenzzentrum in Plauen wird auch gelacht. Anders ist der Alltag in einem bedrückenden Umfeld womöglich nicht auszuhalten. Viele Projekte der Initiative sind ausgesprochen lebensbejahend. Dass ALI in Zusammenarbeit mit Modehäusern aus der Region langzeitarbeitslose Frauen als Models auf den Laufsteg schickt, dürfte bundesweit ein Novum sein. Ganz nebenbei lässt das Rückschlüsse auf das Selbstwertgefühl der Frauen zu. „Wir brauchen nicht die Hungerhaken mit Größe 36. Dafür kochen unsere Frauen viel zu gut“, sagt Schumann. (dpa)