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Am Sozialgericht droht Mammutprozess

Zeitarbeitsfirmen wehren sich gegen Nachzahlungen an die Rentenkasse. Allein der Streitwert bricht alle Rekorde.

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© dpa

Von Karin Schlottmann

Der Aktenberg bei den sächsischen Sozialgerichten wird allmählich kleiner. Eine Entwarnung wolle er zwar nicht geben, sagte der Präsident des Landessozialgerichts, Gerd Schmidt. Aber immerhin ist es den Richtern erstmals gelungen, den Bestand an Altverfahren abzubauen. Der Grund dafür sei ein spürbarer Rückgang neuer Verfahren sowie eine auskömmliche Personalbesetzung, erläuterte Schmidt am Donnerstag bei der Jahrespressekonferenz in Chemnitz.

An den drei Sozialgerichten in Dresden, Chemnitz und Leipzig sind im vorigen Jahr knapp 13 Prozent weniger Klagen eingegangen – insgesamt waren es 27 770 neue Verfahren. 35 283 Altverfahren sind noch offen. Am Landessozialgericht kamen sieben Prozent (3 541) weniger Fälle an.

Gerichtspräsident Schmidt sagte, Sozialrichter wüssten allerdings nie, was in den nächsten Wochen und Monaten auf sie zukomme. „Ob es bei den rückläufigen Eingangszahlen bleibt, ist praktisch nicht vorhersehbar.“ Manche Reformen hätten überhaupt keine Folgen, andere entwickelten sich zu einer regelrechten Katastrophe. Ein Beispiel: Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen hätten sich die Gerichte auf viele Klagen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eingestellt. Dazu kam es allerdings nicht.

Stattdessen drohen derzeit Mammutprozesse, die mehrere Zeitarbeitsfirmen gegen die Deutsche Rentenversicherung begonnen haben, das Sozialgericht Dresden lahmzulegen. Die Rentenversicherung verlangt von den Unternehmen die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in Millionenhöhe. Die Unternehmen hatten Tarifverträge mit einer kleinen christlichen Gewerkschaft abgeschlossen, der mangels Mitgliedern vom Bundesarbeitsgericht die Tariffähigkeit aberkannt wurde. Damit waren die Zeitarbeitsfirmen verpflichtet, sich an den Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaft zu halten. Die Rentenversicherung forderte daraufhin rückwirkend drastische Nachzahlungen wegen zu niedriger Sozialversicherungsbeiträge.

In sechs Verfahren – neun weitere Klagen ruhen – geht es um Beträge zwischen 400 000 und acht Millionen Euro. 11 926 Beschäftigungsverhältnisse müssen einzeln überprüft werden. Pauschale Schätzungen sind nicht zulässig. Einer der Nachforderungsbescheide der Rentenkasse ist über 1 000 Seiten lang. Drei Kammern des Sozialgerichts der Landeshauptstadt sind derzeit mit den Fällen befasst, sagte Gerichtssprecher Hans von Egidy auf SZ-Anfrage. Wie das Gericht die Herausforderung bewältigt, ist offen. Bisher haben zunächst nichtöffentliche Erörterungstermine stattgefunden.

Gerichtspräsident Schmidt machte die personelle Unterbesetzung und die zugleich hohen Eingangszahlen Mitte der 2000er-Jahre für den Aktenberg verantwortlich. Über viele Jahre drehte sich bei den Sozialgerichten fast alles um Hartz-IV. Nach wie vor kommt der größte Teil der Klagen von Hartz-IV-Empfängern. Yvonne Wagner, Sprecherin des Landessozialgerichts sagte, die Bescheide seien kompliziert und schwer verständlich. Manchmal genüge es den Klägern bereits, wenn ein Richter ihnen das Papier mit einfachen Worten erkläre. Der Rückgang der Hart-IV-Verfahren habe auch damit zu tun, dass die Leistungen seit vorigem Sommer für ein ganzes Jahr bewilligt werden und nicht nur wie bisher für sechs Monate.

Das zweite große Thema bei den Sozialgerichten ist die Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Konflikte betreffen meistens medizinische Fachfragen, die oft nur von Gutachtern geklärt werden können. Schmidt sagte, auch im Gesundheitswesen würden die Verteilungskämpfe härter. Welche Diagnose stellt der Krankenhausarzt dem Patienten aus? Wie lange muss er stationär behandelt werden? Über Abrechnungen von Krankenhäusern mit den Krankenkassen wird laut Jahresstatistik des Gerichts ebenfalls langwierig gestritten.

Wer vor ein Sozialgericht zieht, braucht Geduld. Rund 14 Monate dauerte im vorigen Jahr im Durchschnitt ein Verfahren. Einer Familie, die das Jobcenter wegen eines Hartz-IV-Streits verklagt hatte, wurden über 20 000 Euro Entschädigung zugesprochen, weil ihr Prozess sich trotz einfacher rechtlicher Fragen über fast zwei Jahre hinzog. In dem Urteil rügte das Landessozialgericht die jahrelange mangelhafte Personalausstattung der Sozialgerichte. Anders bei den Verwaltungsgerichten: Dort seien im Zuge der Flüchtlingskrise kurzfristig 20 neue Richterstellen bewilligt worden, stellte der 11. Senat fest. Der Freistaat wehrt sich. Der Fall liegt jetzt beim Bundessozialgericht.