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Am See, wo Dornröschen schläft

Am Tagebausee Berzdorf südlich von Görlitz liegt Schloss Tauchritz. Verlassen, sanierungsbedürftig, aber in einem touristischen Entwicklungsgebiet. Über die Zukunft des Denkmals gibt es nur Mutmaßungen.

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© Thomas Schade

Von Thomas Schade

Versteckt zwischen alten Bäumen steht der Backsteinbau anscheinend auf einer Insel. Aber der Eindruck täuscht. Da ist kein Backsteinbau, nur ein stattliches Haus ohne Putz. Und eine Insel gibt es auch nicht. Ein Wallgraben umringt den alten Herrensitz. Aus dem Wasser sprießt Schilf, an den Ufern wuchern die Büsche. Der Graben verwildert. Dabei ist er lebenswichtig. Er hält einige Hundert Eichenstämme feucht, die seit über 400 Jahren hier im Boden liegen. Sie bilden bis heute das Fundament, auf dem seit 1686 Schloss Tuchritz steht.

Roland Marth investiert in der Nachbarschaft in den Tourismus. Sein Gut am See ist schon eine angesagte Adresse. Im Sommer soll der Hotelbau beginnen.
Roland Marth investiert in der Nachbarschaft in den Tourismus. Sein Gut am See ist schon eine angesagte Adresse. Im Sommer soll der Hotelbau beginnen. © Thomas Schade
Einer der Säle im Obergeschoss. Hier müssen die Decken mit den angeblich wertvollen Stuckelementen abgestützt werden. Es wird notgesichert.
Einer der Säle im Obergeschoss. Hier müssen die Decken mit den angeblich wertvollen Stuckelementen abgestützt werden. Es wird notgesichert. © Thomas Schade
Der Kamin im Kaminsaal des Schlosses, der auch Filmkulisse ist.
Der Kamin im Kaminsaal des Schlosses, der auch Filmkulisse ist. © Thomas Schade
Eines der Stuckelemente, die sich von Decken und Wänden gelöst haben.
Eines der Stuckelemente, die sich von Decken und Wänden gelöst haben. © Thomas Schade

Ein Schlagbaum verwehrt den Weg zum Schloss. Niedergetrampeltes Gras verrät, dass er Neugierige nicht hindert, das kleine Eiland zu betreten. Efeu tarnt eine kleine Freitreppe, die rechts und links zum Haupteingang führt. Dort versperrt schweres Eisen den Zutritt. Das normale Türschloss wurde vermutlich aufgebrochen.

Die Neugier auf das verwunschene Plätzchen hat seinen Grund. Vom Schloss sind es nicht einmal hundert Meter bis zum Berzdorfer See, dem aufstrebenden touristischen Zentrum im Süden von Görlitz. Schon heute tummeln sich Radler, Wanderer, Bootstouristen und Wassersportler an dem Tagebausee. Mehr als 150 Jahre lang trieb man hier Bergbau. 300 Millionen Tonnen Braunkohle wurden im Tagebau gefördert. Die letzte Tonne verließ 1997 die Grube in Richtung Kraftwerk Hagenwerder. Es blieb ein 70 Meter tiefes Loch, das bis vor wenigen Jahren geflutet wurde. Der Ort Berzdorf ist verschwunden. Der See träg nun diesen Namen.

Ziemlich genau vor 20 Jahren standen die Bagger vor dem Dorf Tauchritz. Den nördlichen Teil des Wallgrabens hatten die Bergleute schon in Mitleidenschaft gezogen, als sie in den 1950er-Jahren eine Grubenbahn bauten. Doch das Schloss und Tauchritz blieben erhalten – der alte Ort, der vermutlich schon im frühen Mittelalter besiedelt war. Im 14. Jahrhundert stand die „veste Tucheras“ hier in sumpfigem Gebiet unweit der Neiße. Das Barockschloss in seiner heutigen Form ließ Maria Sidonia von Warnsdorf im 17. Jahrhundert erbauen.

Weit vor dieser Zeit war Friedrich von Bieberstein Herr auf Schloss Tauchritz, Spross eines meißnischen Adelsgeschlechts, dessen Ursprung auf der Burg Bieberstein bei Freiberg lag. In der Lausitz und in Böhmen gehörten die Biebersteins zu den einflussreichen Adelsfamilien, sagt der Görlitzer Stadtarchivar Siegfried Hoche. „Bieberstein galt als einflussreicher Gefolgsmann und Vertrauter Karls IV., dem König von Böhmen, der auch deutscher Kaiser war“, sagt der Historiker.

Neben Tauchritz gehörten Bieberstein auch die mächtige Burg auf der Görlitzer Landeskrone und Schloss Frýdlant bei Liberec in Tschechien. Aus den Akten weiß der Stadtarchivar, dass Friedrich von Bieberstein auf Schloss Tauchritz zur Bedrohung für die Görlitzer wurde. So kam es im Jahr 1349 zu einer Fehde mit ihm. Die Auswirkungen sind heute in der Stadt zu sehen.

In jenem Jahr trieb einer von Biebersteins Vasallen, Nietsche von Rackwitz, in der Umgebung als Raubritter sein Unwesen, plünderte Bauern und Handelsleute. Deshalb ritten Görlitzer Bürger nach Tauchritz, um mit Bieberstein über den Raubritter Rackwitz zu verhandeln. Doch statt zu reden, habe Bieberstein seinen Knechten zugerufen: „Nu slot unsre rechte Vinde, die uns suchen in unseren Vesten“ (Nun schlagt unsere Feinde ...). Zwei Görlitzer wurden daraufhin sofort in Tauchritz erschlagen. Die restlichen fünf Abgesandten jagte man über die Felder, bis sie das gleiche Schicksal ereilte.

Bieberstein sei nach der heimtückischen Tat nicht davongekommen, erzählt Siegfried Hoche. Er musste schließlich 200 Schock Groschen als Sühnegeld bezahlen, damit die Görlitzer eine Kirche erbauen und für das Seelenheil der Erschlagenen beten konnten. Damals wurde der Grundstein für die Kirche „Unserer Lieben Frauen“ gelegt. Sie prägt heute als Frauenkirche das Bild der Görlitzer Innenstadt.

Das Geschlecht der Biebersteins sei etwa 300 Jahre später erloschen, sagt Hoche. Da hatten längst andere das Sagen im Schloss Tauchritz und auf dem Gut nebenan, das zu einer der größten Landwirtschaften der Gegend aufstieg. Insbesondere die Familien von Gersdorf und von Warnsdorf hätten diese Entwicklung befördert. Johann Christoph Gottlob von Warnsdorf war der letzte Herr im Schloss. Er soll der Erste gewesen sein, der um das Jahr 1730 herum die Öfen und Kamine mit dem „Tauchritzer Turf“ feuern ließ, den die Knechte überall in der Gegend im Boden fanden und der einhundert Jahre später als Braunkohle das weitere Schicksal der Gegend bestimmen sollte.

Als die Bergleute kamen, bevölkerten „unbemannt“ gebliebene Adelsdamen Schloss Tauchritz. Das Freie weltadelige evangelische Fräuleinstift Joachimstein zu Radmeritz hatte das Anwesen übernommen. In Radmeritz, wenige Kilometer östlich von Tauchritz, hatte August der Starke ab 1722 ein Stift einrichten lassen, in dem unverschuldet in Not geratene Damen des Adels standesgemäß versorgt werden sollten. Für das königlich-sächsische Sozialprojekt wurde Schloss Tauchritz so etwas wie eine Außenstelle, wenn in Radmeritz (Radomierzyce) mal der Platz knapp wurde. Stift Jochachimstein blieb bis 1945 Eigentümer von Tauchritz, danach wurden Schloss und Gut Volkseigentum. Bis in die 1960er-Jahre wurde das Schloss als Schule genutzt. Seit den 1980er-Jahren stand es leer.

Schon zu DDR-Zeiten kamen Besucher, um die Stuckdecken und -ornamente zu bewundern, die den besonderen Wert des Schlosses darstellen. Kunsthistoriker vergleichen sie mit Stuckarbeiten, die einst den Dresdner Zwinger zierten. 1989 zerbrachen sich angehende Architekten der TU Dresden den Kopf, wie Schloss Tauchritz künftig genutzt werden könnte. 1990 fiel das Barockschloss an die Treuhand. Beim Treuhandunternehmen TLG Immobilien AG heißt es, dass das Schloss verkauft und seit vielen Jahren nicht mehr im Bestand sei. Die Stadt Görlitz, zu der Tauchritz und Hagenwerder gehören, erklärt, das Schloss sei nie in ihrem Eigentum gewesen. Wer Eigentümer sei, könne er aus Datenschutzgründen nicht sagen, erklärt Stadtsprecher Wulf Stibenz.

In den vergangenen 25 Jahren wurde viel über die Rettung des Kulturdenkmals geredet, aber nur wenig getan, obwohl erste Sanierungsarbeiten gleich nach 1990 begannen. Mit Geld vom Land und von der Stiftung Denkmalschutz wurde das Dach instand gesetzt – bis die Förderung endete, weil die Kommune ihren Eigenanteil an den Kosten nicht mehr zahlen konnte. Dennoch wollte die Stadt das Schloss im Dreiländereck zum „Zentrum für Europäischen Kommunikations-Kultur“ auszubauen. Die als Verein geführte Görlitzer Beschäftigungsgesellschaft Ebiz nahm sich der gefährdeten Gebäude an, schloss sogar einen Erbbaupachtvertrag über 35 Jahre – mit der Stadt Görlitz, der die Immobilie möglicherweise doch irgendwann gehörte.

Zeitweilig werkelten 170 ABM-Kräfte in Tauchritz, beräumten und entkernten die alten Gutshäuser, erneuerten im Schloss einen Teil der Fenster, sicherten Decken und versuchten, die Stuckelemente zu retten. In einem Gutshaus entstand die Musikscheune, ein Musikantenstadel für junge Leute und moderne Musik, Lesungen und andere Konzerte. Doch nach ein paar Jahren scheiterte die weitere Sanierung – wieder am Geld. Ebiz musste Insolvenz anmelden.

So bleibt Schloss Tauchritz derzeit auf der Strecke, während in der Region nach der langen Zeit des Bergbaus und den Jahren der Rekultivierung gerade der Tourismus erwacht. Noch wirkt die Infrastruktur an der Blauen Lagune etwas improvisiert. Sie ist im Sommer die Badewanne der Görlitzer. Aber ein paar Hundert Meter daneben baut die Stadt eine kleine feine Marina und denkt dabei auch an zahlungskräftiges Klientel aus der Nachbarschaft. „Die drei größten Boote auf dem See gehören Tschechen“, verrät Siegfried Hoche. Er segelt in seiner Freizeit und ist einer der Betreiber der Marina – zusammen mit Roland Marth, einem Münsterlander, der vor Jahren Görlitz und den See für sich entdeckt hat. Roland Marth hat die ehemalige Musikscheune zum „Gut am See“ ausgebaut, einer angesagten Adresse für Hochzeiten und Kulturveranstaltungen. Er will im Sommer beginnen, ein 4-Sterne-Hotel zu bauen. „Geht alles gut, ziehen im Herbst 2018 die ersten Gäste ein“, sagt er zuversichtlich. Marth ist überzeugt, dass der See touristisch eine Zukunft hat. Man müsse nur den Mut haben, anzufangen.

Das siechende Schloss in der Nachbarschaft sei ihm kein Hindernis. „So ein verwunschenes Fleckchen hat auch seinen Reiz.“ Dennoch glaubt er, dass etwas getan werden muss, um das Kulturdenkmal vor dem Verfall zu retten. Das sieht auch Katharina Poplawski so, Projektleiterin in der Europastadt Görlitz-Zgorzelec GmbH, quasi die Tourismus-Managerin am Berzdorfer See. Aber auf das Schloss habe sie keinen Einfluss, weil es in privater Hand sei. Absprachen, wann es aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wird, kennt sie nicht.

Einer, der mehr sagen könnte, ist Georg Rittmannsperger, ein Hesse, der 1998 an die Neiße kam. Rittmannsperger sanierte zahlreiche Häuser in der Altstadt, auch das Hotel „Zur Börse“ direkt neben dem Rathaus. Sein Name wird am häufigsten genannt, wenn es um Schloss Tauchritz geht. Doch dazu möchte Rittmannsperger dieser Zeitung nichts sagen. Früheren Äußerungen kann man entnehmen, dass der Hotelier in den Erbbaupachtvertrag des Ebiz eingetreten ist und den Kauf des Hauses auf den Weg gebracht hat. Das war 2004. Vom Schloss als Veranstaltungsort war die Rede. Zuvor müsse die Flutung des Sees beendet sein. Zudem muss die Bergbaunachfolgefirma LMBV am Schloss den zerstörten Wallgraben wieder herstellen. Einen Zeitplan kann die LMBV derzeit nicht nennen. Aus dem Görlitzer Rathaus ist zu hören, dass die Ziele des Investors für das Schloss zum Entwicklungskonzept der Stadt passen. Wie immer die auch aussehen mögen. Im Gegensatz zu Roland Marth wartet Georg Rittmannsperger wohl ab, wie der Tourismus am See in Gang kommt, bevor er in das marode Schloss investiert.

Hinter der verriegelten Tür müssen derweil einige Decken von Gerüsten gestützt werden. An anderer Stelle sichern Stahlbänder Tragwerksbalken. Teile der angeblich wertvollen Stuckarbeiten liegen einigermaßen gesichert auf Paletten.

So fühlt sich derzeit anscheinend nur einer wohl im Schloss Tauchritz: der Babelsberger Filmproduzent Peter Hartwig. Er drehte 2009 hier Teile seines Films „Goethe“. 2012 kam er wieder für die Produktion des Beziehungsdramas „Zum Geburtstag“. Da stand die Tür mit der schweren Eisenstange weit offen, da schufen Requisiteure im großen Kaminsaal eine etwas morbide, aber gelungene Kulisse. Sie war nur eines: ziemlich weit entfernt von der Realität auf Schloss Tauchritz.