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„Alkoholiker sind immer die anderen“

Sich die Sucht einzugestehen, ist das Schwerste. In Sebnitz gibt es eine WG mit Menschen, die das geschafft haben.

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© Christian Juppe

Von Jörg Stock

Die Maschine schnurrt, setzt Stich um Stich in den Stoff, den ihr zwei Männerhände zuschieben. Ein Mann, tätowierte Kobra auf dem Oberarm, im Nähstübchen. Passt das zusammen? Für ihn schon, sagt Heiko. Er kommt vom Bau. Er mag es, Dinge mit der Hand zu tun, will sehen, was er geschafft hat. „Arbeit macht glücklich“, sagt er. Und Arbeit hilft ihm, nicht an den Alkohol zu denken. „Wenn ich arbeite, habe ich dazu keine Zeit.“

Daniel Kirsten wuchs im Görlitzer Drogenmilieu auf. Für seinen kleinen Sohn will er vom Crystal loskommen.
Daniel Kirsten wuchs im Görlitzer Drogenmilieu auf. Für seinen kleinen Sohn will er vom Crystal loskommen. © Christian Juppe
Marcus Kern (l.), einst alkoholabhängig, arbeitet mit Heilerziehungspfleger Enrico Scholl am Siebdruckapparat.
Marcus Kern (l.), einst alkoholabhängig, arbeitet mit Heilerziehungspfleger Enrico Scholl am Siebdruckapparat. © Christian Juppe

Jährlich müssen mehr als 20 000 Sachsen wegen „suchtbezogener Störungen“ in die Klinik. Im Schnitt bleiben sie knapp elf Tage. Unter ärztlicher Aufsicht werden die Kranken entgiftet. Ihre Sucht sind sie damit noch lange nicht los. Ohne intensive Nachsorge gibt es praktisch keine Aussicht, vom Stoff weg und ins normale Leben zurückzukommen. Das hat auch Heiko Meisel gemerkt. Der Vogtländer hat alles versucht. Als nichts half, kämpfte er um einen Platz in diesem Haus, wo er jetzt an der Nähmaschine sitzt. Es war sein letzter Ausweg, sagt er, und der Weg gefällt ihm. „Es ist hier ein schönes Miteinander.“

Das Haus steht auf der Sebnitzer Gartenstraße. Im vorigen Jahrhundert war es das Quartier des Reichsfiskus, später Frauenklinik. 2011 richtete die Lebenshilfe Pirna-Sebnitz-Freital hier die Außenwohngruppe ihrer Sozialtherapeutischen Wohnstätte ein. Das Heim für Suchtkranke, dessen Haupthaus wenige Minuten entfernt steht, ist in der Region einmalig und selbst sachsenweit ein äußerst rares Projekt. Insgesamt gibt es 44 Plätze, und fast immer, sagt Heimleiterin Ute Albert, sind sie ausgebucht. „Die Nachfrage ist groß.“

Arbeit ist der Schlüssel zur Rückkehr in die Gesellschaft, sagt Frau Albert. Wer in ihr Haus kommt, hat oft seit Jahren keinen Job mehr gehabt, hat die Tage mit dem Besorgen und Konsumieren der Drogen zugebracht. Im Heim werden die Klienten an einen geregelten Alltag gewöhnt. Nach etwa zwei Jahren ziehen sie in die Außenwohngruppe. Die WG mit zwölf Köpfen funktioniert wie andere Wohngemeinschaften auch. Jeder hat sein Zimmer, kauft für sich ein, wäscht seine Wäsche, verbringt die Freizeit, wie es ihm passt. Nur die Arbeit, das hauptsächliche Therapiemittel, ist organisiert. Gearbeitet wird entweder in der Behindertenwerkstatt oder hier im Haus.

Zahlreiche Entgiftungen

Zum Beispiel im Nähzimmer, oben, unterm Dach. Was Heiko gerade in den Fingern hat, wird ein Beutel, der mal einem Kindergartenkind gehören soll. Heiko kann auch Stiftmappen nähen, Handyhüllen, Laptoptaschen – was gewünscht wird. Das Grundwissen hat er von seiner Oma, den Rest hier gelernt. War es schwer? „Für mich nicht.“ Nähen sei wie Fahrradfahren.

Zu Heiko kam die Sucht in der Lehre. Wenn die Arbeit auf dem Bau klappte, durfte er nicht nur Bier holen, sondern es auch trinken. Das Bier zum Feierabend wurde Routine. Heiko fuhr alle Sorten Baumaschinen, wurde Ausbilder. Von der Krankheit bekamen die anderen nichts mit. Wenn er was intus hatte, funktionierte er ganz normal. Er selbst sah sich nie als Alkoholiker. Alkoholiker waren für ihn immer die anderen, die, die auf der Parkbank tranken oder vor der Kaufhalle. Er hat sich lange was vorgemacht, sagt er. Am schwersten ist es, sich die Sucht einzugestehen, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Manchmal fällt ihm das heute noch schwer, obwohl er schon das dritte Jahr hier ist.

Die Beutel von ganz oben werden ganz unten, im Keller, in der Siebdruckwerkstatt veredelt. Am Gerät steht Marcus, 36, ein gelernter Koch, und streicht mit einem Gummikratzer Farbe durch die Schablone. Die Arbeit macht Laune, sagt er. „Momentan bin ich ganz glücklich.“ Auch Marcus war dem Bier verfallen. Getrunken hat er nach Feierabend, „um runterzukommen“. Der Alkohol war seine Schlaftablette. Später trank er auch auf Arbeit. Er verlor den Job, stand nur noch fürs Essen, Fernsehen und Trinken auf. Zuletzt brauchte er sechs bis acht Flaschen Bier am Tag.

Wie viele Entgiftungen er gemacht hat, weiß Marcus nicht auf Anhieb. Waren es acht? Zwölf? Momentan spürt er kein Verlangen nach der Flasche. Wenn er auf tschechischen Märkten ist, sich Tabak zum Zigarettendrehen kauft, geht er ungerührt an den Alkoholregalen vorbei. Dass die Versuchung zurückkommt, will er nicht ausschließen, ja, er rechnet sogar damit. Was er dann tun wird?

„Die Droge ist in mir drin“

Darüber will er nicht so genau nachdenken. Jedenfalls hat er keinem versprochen, dass er nie wieder ein Bier anrührt. Nicht mal seiner Mutter. Rund drei Viertel der Leute im Heim sind trockene Alkoholiker. Das restliche Viertel war süchtig nach illegalem Stoff, meist Crystal. Daniel, 37, gut ein Jahr hier, hat die Droge noch immer nicht losgelassen. „Das ist in mir drin“, sagt er. Selbst jetzt, wo er nur vom Crystal spricht, werden ihm die Hände schweißig, wandern rastlos im Schoß umher. Daniel ist in der Drogenszene von Görlitz aufgewachsen, praktisch ohne Eltern. Er tingelte von einer Junkie-Wohnung zur anderen und fand es schön. Drogen zu nehmen, war für ihn völlig normal, weil es alle machten.

Der Crystaltrip bescherte ihm Psychosen. Manchmal hört er Stimmen, tausend Stimmen, die durcheinanderreden. Oder er sieht Menschen, die gar nicht da sind. Und trotzdem vermisst er den Stoff. Wäre er nicht hier, er wäre sofort wieder „drauf“, sagt er. Aber er muss durchhalten. Ein Prozess steht an, achtzehn Anklagepunkte, Einbruch, Diebstahl, Raub, Erpressung – Daniels Beschaffungskriminalität. Wenn er nicht clean bleibt, muss er wahrscheinlich in den Knast. Dann dürfte er seinen Sohn nicht mehr sehen. Das wäre für ihn der Untergang. „Ich habe ihn sehr lieb.“