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46 Kinder in 20 Jahren

Barbara und Roland Schönfeld geben Pflegekindern ein Zuhause auf Zeit. Auch wenn’s nicht immer rund läuft.

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© Toni Söll

Von Susanne Plecher

Chemnitz. Vor vielen Wohnungstüren dieses Hochhauses in Chemnitz parken Rollatoren. Auch Barbara und Roland Schönfeld leben wie ein Großteil ihrer Nachbarn schon seit knapp 40 Jahren in dem Plattenbau. Aber bei ihnen steht ein Kinderwagen: Weiß, modern, mit großen Speichenrädern. Die Frau, die ihn Jahr um Jahr mit wechselnder Belegung schiebt, ist 64 Jahre alt. Früher war sie die Mutti. Nun ist sie die Oma. Auch für ihre Pflegekinder.

Barbara Schönfeld sitzt auf einem riesigen Sofa, das Platz für viele kleine Leute bietet. An den Wänden hängen Fotos der Familie – drei Kinder, zehn Enkel und ein Urenkelchen. Dazu kommen noch 46 Pflegekinder, denen sie und ihr Mann Roland in den vergangenen 20 Jahren ein Zuhause auf Zeit gegeben haben. Shannon war die Erste. Sie war acht Monate alt, wog und maß aber nicht viel mehr als ein Neugeborenes. Eine schwer alkoholkranke Frau hatte sie geboren – und weggegeben.

681 sächsische Kinder sind 2015 in Pflegefamilien aufgenommen worden. Durchschnittlich waren sie 5,9 Jahre alt. Ihre Eltern waren drogenabhängig, hatten schwere Beziehungsprobleme oder Krankheiten, manche sind gewalttätig gegen ihre Kinder geworden. Deshalb haben die Jugendämter sie in Obhut genommen. Sie finden befristet Unterschlupf oder dauerhaft ein neues Zuhause bei Pflegefamilien. In Chemnitz werden derzeit 212 Kinder in solchen Familien betreut, ein Drittel davon kommt bei Verwandten unter. In Bautzen sind es 203 Kinder, in Dresden 381. Für neun Kinder sucht das Dresdner Jugendamt momentan Pflegeeltern. Der Bedarf ist überall groß. Es fehlen vor allem Familien, die kurzfristig Pflegekinder aufnehmen können. „Es gibt bei Weitem nicht genügend Plätze“, so Heinrich-Hildebrand Albert vom Landesverband für Pflege- und Adoptivfamilien.

Im Zimmer neben der Riesencouch schläft Nummer 46, ein neun Monate alter Junge. Barbara Schönfeld zeigt Fotos auf dem Smartphone: Ein Strahlemann beim Baden, beim Kuscheln, bei der Ausfahrt zum Spielplatz. Eine zarte Narbe auf der Stirn ist der einzige Hinweis auf seinen schweren Start ins Leben. Seit einem halben Jahr sorgen sich die Pflegeeltern um ihn, waren mit ihm im Krankenhaus, im Schlaflabor, zum MRT. Dass der Kleine aller drei Stunden sein Fläschchen und eine frische Windel braucht – auch nachts – nervt sie nicht. Sie sei nach all den Jahren so konditioniert, dass sie ohnehin mitten in der Nacht aufwache, sagt Barbara Schönfeld. Dann könne sie auch das Baby versorgen. „Wir hatten immer Kinder. Sie gehören zu unserem Leben dazu“, sagt ihr Mann Roland. Im kommenden Jahr wird er 70.

Trotzdem wird die Betreuung im höheren Alter anstrengender. Deshalb will das Paar nur noch Babys aufnehmen. Sie bleiben nur wenige Monate bei ihnen. „Das Ehepaar ist eine Zwischenstation. Ziel ist, dass die Kinder irgendwann zu ihren leiblichen Eltern zurückgeführt werden können“, sagt Petra Hoppe vom Jugendamt Chemnitz. Darauf wartet das fünfjährige Mädchen, das zweite Pflegekind, das Barbara und Roland Schönfeld auf Bitten des Jugendamtes derzeit beherbergen. Es lebt seit anderthalb Jahren bei ihnen. Ihren Vater trifft es einmal pro Woche im Kindergarten, wo er seine Kinder besucht. Sie leben bei Pflegeeltern oder im Heim.

Gibt es doch keinen Weg zurück, prüft das Jugendamt die Adoptionsvoraussetzungen. Fehlen sie oder lassen sie sich in absehbarer Zeit nicht herstellen, wird für die Kinder eine Familie gesucht, die sie dauerhaft bis zu ihrem 18. Geburtstag in Pflege nimmt. Diese Pflegeeltern sollten maximal 50 Jahre älter sein als das Kind. Als Shannon zu den Schönfelds kam, waren sie 44 und 49 Jahre alt. Für das körperlich und geistig schwerbehinderte Mädchen fanden sich trotz mehrerer Anläufe keine Adoptiveltern. Es sollte ins Heim gegeben werden. „Das hätten wir nicht übers Herz gebracht“, sagt Barbara Schönfeld. Sie wandelten die befristete Pflege in eine dauerhafte um. Shannon ist erwachsen und wohnt noch immer bei ihnen. „Sie ist unsere Tochter und wird es immer bleiben. Auch wenn wir mal nicht mehr sind“, sagt Roland Schönfeld. Eine der leiblichen Töchter der Familie wird sich um sie kümmern.

Ein fremdes Kind aufzunehmen, kann Probleme bringen. „Das sind Kinder, die schon viel erleben mussten“, sagt Petra Hoppe. „Das Schwierige für sie ist, dass sie jederzeit wieder zu ihren leiblichen Eltern gegeben werden können. Dadurch können sie sich nicht richtig binden und sind hin- und hergerissen“, sagt Petra Rosch vom Verein der Pflege- und Adoptivfamilien. Sie hat selbst eine zwölfjährige Pflegetochter. „Wir sagen dann immer: Jetzt bist du hier. Wir leben im Hier und Heute. Wenn man sich darauf einstellt, kann man sich mit dieser Situation zurechtfinden.“ Doch manchmal sind Kinder so aggressiv oder verstört, dass Liebe allein nicht ausreicht. Kommen auch die Pflegeeltern an ihre Grenzen, gibt es Hilfe vom Jugendamt. Sehr verhaltensauffällige Kinder können von Anfang an zusätzlich von Pädagogen kommunaler Erziehungsstellen betreut und begleitet werden, so Petra Hoppe.

„Wir hatten bislang noch mit keinem Kind Schwierigkeiten. Bei uns gibt es Regeln, die wir konsequent einhalten“, sagt Barbara Schönfeld. Sie war Verkäuferin, ihr Mann Maurer. Durch Unfälle und Operationen konnten sie ihren Berufen schon vor dem Rentenalter nicht mehr nachgehen. Herumsitzen kam nicht infrage. Sie meldeten sich beim Jugendamt, absolvierten ein Pflegeeltern-Seminar, wurden geprüft.

Kurz nach zwei hat das Baby seinen Mittagsschlaf beendet. „Du bist ja schon wach, meine Mücke!“, grüßt die Pflegeomi ihren jüngsten Schützling. Sein zahnloses Lächeln ist entwaffnend. Die Frage, wie lange sie sich noch um Kinder fremder Leute kümmern will, wischt Barbara Schönfeld mit einem Lachen beiseite: „Den ganzen Tag so eine Ruhe – das ist mir nichts. Außerdem bräuchte ich dann einen Rollator, aber damit gehe ich nicht. Da nehme ich doch lieber den Kinderwagen.“

Jeder kann ein Pflegekind aufnehmen

  • Als Pflegeperson kann sich jeder bewerben, unabhängig vom Familienstand. Gibt es eigene minderjährige Kinder, müssen auch sie mit der Aufnahme eines Pflegekindes einverstanden sein und sich nicht zurückgedrängt fühlen.
  • Wer ein Pflegekind aufnehmen möchte, muss körperlich und mental gesund und belastbar sein, in gesicherten finanziellen Verhältnissen leben, genügend Platz und Zeit haben. Er muss sich mit dem Kind beschäftigen und es erziehen wollen. Überprüft wird zudem das Vorstrafenregister.
  • Die zuständige Stelle dafür ist das Jugendamt der Stadtverwaltung oder des Landratsamtes. Dort gibt es Infoveranstaltungen, Vorbereitungsseminare und eine individuelle Beratung. Das Amt entscheidet, ob Bewerber geeignet sind.
  • Pflegegeld wird monatlich vom Jugendamt gezahlt. Es enthält eine Aufwandsentschädigung für die Erziehungsleistung in Höhe von 237 Euro und materielle Dienstleistungen. Diese betragen– gestaffelt nach dem Alter des Kindes – zwischen 508 und 676 Euro. Kosten für Kindergarten und Hort werden zusätzlich übernommen.