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Zwischen Nostalgie und Hoffnung

Sachsens Autozulieferer hegen im russischen Lada-Werk in Togliatti Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft.

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© Michael Rothe

Von Michael Rothe, zurzeit in Moskau

Was Putin-Kritiker befürchtet hatten, ist dann doch passiert: Sachsens Wirtschaftsminister macht einen Kniefall in Russland. Mit leuchtenden Augen kauert Martin Dulig im Werksmuseum von Avtovaz vor dem Kühlergrill des ersten verkauften Ladas, um per Handy das Ur-Logo mit dem Schriftzug Togliatti festzuhalten.

Dass Lada auch elektrisch kann, bestaunt Wirtschaftsminister Martin Dulig.
Dass Lada auch elektrisch kann, bestaunt Wirtschaftsminister Martin Dulig.
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre hatte Avtovaz die Studie des E-Autos „Papan“ vorgestellt.
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre hatte Avtovaz die Studie des E-Autos „Papan“ vorgestellt. © dpa

Für den SPD-Politiker und seine Wirtschaftsdelegation hat der Besuch des größten Autowerks in Osteuropa etwas Nostalgisches. Was dort seit fast 50 Jahren vom Band läuft, kennen er und sein Gefolge mit Ost-Biografie als motorisierten Superlativ auf realsozialistischen Straßen. Auch Sachsens SPD-Regierungsvize, als Kind bekennender Mitfahrer im Trabi der Eltern, erinnert sich an jenen Viertakter einer Tante.

Sein Name entstammt den Wolgaschiffchen Lavia, ist zugleich Mythos und Nationalstolz der Russen. „Mit jenem Frauennamen wurde das Auto nur im Export verkauft“, erklärt Tatjana bei der Führung durch das Museum. Daheim habe es bis 2004 Schiguli geheißen – und ist als solcher auch gelernten DDR-Bürgern ein Begriff. Vehement bestreitet die zierliche Hüterin der Firmengeschichte ein Gerücht, der Ex-Generaldirektor habe das Gefährt nach seiner Tochter benannt. Oder war es umgekehrt? Tatsächlich bedeute Lada auch „Geliebter“, sagt Tatjana. Und der war die Blechkarosse als meistverkauftes Auto im größten Land der Welt. Nicht nur Duligs Tante musste sieben Jahre auf das Auto warten. Heute macht es selbst auf dem kilometerlangen Parkplatz für die 44 000 Beschäftigten immer mehr Opels, Nissans und VWs Platz.

Ab 1970 lief der Lada in Lizenz des Fiat 124 vom Band – ebenso robust wie damals schick. Er fuhr in der Version 2101 fast unverändert bis in die 1980er-Jahre und kostete offiziell gut 23 000 DDR-Mark. Sein Nachfolger 2107 wurde bis 2012 produziert und galt als russischer Mercedes, weil sein Kühlergrill dem der deutschen Edelkarosse ähnelte. „In die 1980er-Jahren bauten 150 000 Menschen bis zu 800 000 Ladas im Jahr“, berichtet Tatjana – bis heute gut 30 Millionen Stück.

Nur 30 Jahre zuvor hatten sowjetische Arbeiter und Ingenieure am Mittellauf der Wolga rund um die Autofabrik eine Stadt aus dem Boden gestampft. Sie wurde nach Palmiro Togliatti benannt, dem einstigen Führer der italienischen Kommunisten, für seine Verdienste bei der Einwerbung von Fiat. Nicht mehr ganz so museal geht es in der Produktion zu, trotz der noch immer vielen Handarbeit. Kein Vergleich zu Sachsens Hightech-Autoschmieden, wie sie Dulig etwa von BMW in Leipzig kennt. „Qualität wird durch Arbeiten erzeugt, nicht durch Kontrolle“, steht über dem Eingang zu einer Werkhalle. Dahinter wuseln zwischen wenigen Robotern der Marke Kuka und in meist blau-grauem Outfit 916 Arbeiter. So steht’s am Dienstplan. „Der Frauenanteil liegt bei 70 Prozent“, sagt Schichtleiter Alexander Mirgorotzki. Stolz führt der 32-Jährige den sächsischen Minister und sein 40-köpfiges Gefolge durch die Fertigung. Allein an seiner 1 200 Meter langen Taktstraße würden pro Tag 765 Autos gebaut, sagt er: Lada Largus, X-Ray, dazu Renault Sandero und Nissan Almera.

Die Entwicklung von Avtovaz, Osteuropas größtem Autowerk, steht für die russische Autoindustrie seit dem Ende der Sowjetunion. 1993 wurde das Kombinat in eine AG umgewandelt, in der zunächst die Belegschaft die Aktienmehrheit übernahm. Absatzkrise, fehlende Reformen und mafiöse Zustände brachten das dauerklamme Unternehmen an den Rand des Abgrunds. Staatshilfen und Steuerstundungen verhinderten das Aus. Als der Markt 2006 anzog, interessierte sich auch Renault für das marode Werk und übernahm ein Viertel der Anteile.

In der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 brach der Lada-Verkauf um die Hälfte ein, auf 350 000 Wagen. Wieder musste der Staat helfen, verloren Zehntausende ihre Arbeit. Renault startete ein Modernisierungsprogramm, übernahm mit Nissan gut zwei Drittel der Anteile und die Kontrolle. Der russische Staat ist nur noch Beifahrer. Als der Markt 2014 erneut einbrach, ging der Aderlass weiter – mit Bo Andersson erstmals unter einem Ausländer. Der Schwede hat Avtovaz umgebaut und weitere 26 000 Leute entlassen. Im Frühjahr musste er selbst gehen, sein Nachfolger ist ein Franzose mit Dacia-Erfahrung.

Avtovaz beschäftigt ein Viertel der Erwerbstätigen von Togliatti. Die Dienstältesten verdienen umgerechnet 600 Euro im Monat. Wer entlassen wurde, findet schwer einen neuen Job in Togliatti. Die nach Samara zweitgrößte Stadt der Region, das sind 700 000 Einwohner in meist grauen Betonkästen an breiten Straßen. Kein Urlaubsparadies. In den 1990er-Jahren hatten sich rivalisierende Clans dort tödliche Kämpfe um die Kontrolle von Avtovaz geliefert. Die wieder eingekehrte Ruhe ist nach Ansicht vieler Russlands Präsidenten zu verdanken. Wladimir Putin hat im wahrsten Wortsinn seine Handschrift hinterlassen: per Autogramm im Museum auf der Motorhaube eines gelben Kalina Sport. Von den Sowjetmodellen blieb nur der Geländewagen Niva, dessen Namensrechte Avtovaz aber an Chevrolet/General Motors verkauft hat. Die jüngsten Kinder der Autofamilie heißen Priora, Kalina, Granta, Vesta, X-Ray und haben mit dem einstigen Lada nicht mehr viel gemein. „So sind die Zeiten“, sagt Tatjana, „wir verändern uns“.

Während Dulig durch die Lada-Geschichte kurvt, treffen sich die mitgereisten Firmenvertreter mit Experten der Einkaufsabteilung von Avtovaz. Sie sind weniger scharf auf Putin-Autogramme als auf Unterschriften unter Verträge. Einige machen sich berechtigte Hoffnungen, vor allem Werkzeugmaschinenbauer wie Heckert und Niles-Simmons-Hegenscheidt in Chemnitz, Mikromat in Dresden oder Profiroll in Bad Düben. Auch der Sensorhersteller ADZ Nagano in Ottendorf-Okrilla und der Robotron Datenbank-Software rechnen sich einiges aus, nachdem Russland seinen Maschinenbau ankurbeln und auf Energieeffizienz achten will. Manfred Liebl, Beauftragter der Wirtschaftsförderung Sachsen, zieht ein positives Fazit. „Unsere Firmen wissen jetzt, wie sie in den gemeinsamen Einkaufspool von Avtovaz, Renault und Nissan kommen und sich an deren internen Ausschreibungen beteiligen können“, sagt der Russland-Experte. Schon das Wirtschaftsforum zuvor in Samara mit 38 russischen Firmen sei ein Erfolg gewesen. Bei den Gesprächen, eine Art Speed-Dating, hätte es jeweils bis zu sieben Kontakte gegeben, die bei anschließenden Betriebsbesuchen teils vertieft worden seien.

Duligs Moskau-Visite gleicht den Europa-in-drei-Tagen-Trips der Japaner: Treffen mit dem deutschen Botschafter Rüdiger von Fritsch, mit dem russischen Oppositionellen Dmitry Gudkov, Abendessen mit Sachsen-affinen russischen Reiseveranstaltern. Mit Viktor Semenov, Berater des russischen Industrieministers, wurde vereinbart, eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit zu vereinbaren. Hauptexportgüter sind Erzeugnisse des Kfz- und Maschinenbaus.

Mit fünf Tagen Abstand zum gescholtenen sächsischen Polit-Zirkus düst Dulig am Freitag nach Hause. Dort wurden seine Schritte – und erst recht die Worte – aufmerksam verfolgt: Kritisch von jenen, die, wie die Grünen im Landtag, ein klares Statement gegen Putins Tun in Syrien vermissen. Hoffnungsvoll von Leuten wie Sachsens Arbeitgeberpräsident Jörg Brückner, die ein Ende von Sanktionen und Schwarz-Weiß-Denken fordern.

Der Minister hat seine Rolle als Türöffner für Unternehmen erfüllt. Während manch Teilnehmer Geschäfte anbahnen konnte, hat Dulig bei der Heimreise am Freitag wenig Konkretes im Gepäck: legendäres Schoko-Waffel-Konfekt aus dem Supermarkt für ein paar Rubel. Unbezahlbar aber ist seine Erkenntnis, dass der sächsisch-russische Gesprächsfaden nicht zerrissen ist. Und: Der Minister machte nur einen Kniefall – vor einem alten Lada.