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Zurück in den Alltag

München am Wochenende nach dem Amoklauf: Eine Stadt steht nur mühsam aus dem Albtraum auf und aus der kollektiven Hysterie.

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© Reuters

Von Paul Kreiner

Lobet den Herrn, singen sie in der Leonhardskirche aus voller Kehle, und die Republik hört mit beim ZDF-Fernsehgottesdienst an diesem Sonntag. Zum Predigen ist der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm in Stuttgart auf die Kanzel gestiegen: „Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe“, zitiert er einen alten Vers. „Die, die Angst verbreiten wollen, werden den Sieg nicht davontragen.“

Marcus da Gloria Martins, Münchner Polizeisprecher
Marcus da Gloria Martins, Münchner Polizeisprecher © action press

Doch bei Bedford-Strohm daheim in München ist auch am zweiten Tag nach dem Amoklauf keinem zum Singen zumute. Still liegt die Millionenstadt. Der „Sommernachtstraum“, das „Tollwood“ im Olympiapark, so viele Feste und Partys sind abgesagt worden an diesem Wochenende. Kein Feuerwerk knallt. Am Odeonsplatz bleiben die Bierzelte für die große Sauferei anlässlich 500 Jahre Reinheitsgebot verhangen.

Immer noch aber sammeln sich viele Menschen dort, wo am Freitag kurz nach 18 Uhr die Nacht des Schreckens und des Chaos begann; vor dem riesigen Olympia-Einkaufszentrum im Norden der Stadt. Kerzen zünden sie an, Blumen legen sie ab, an den Straßenrändern, an den gesperrten Eingängen zur U-Bahn, schier überall. Immer wieder sieht man Muslime, die für die Toten und die Verletzten beten. Einen einzigen Mann hat die Polizei am Sonnabend kurz hinter das Absperrband gelassen. Rote Rosen hatte er dabei und ein groß ausgedrucktes Porträtfoto. Er weinte.

Und dann das: Kaum 24 Stunden nach der Tat schien der Schrecken schon wieder über München zu kommen. Ein neuer Amoklauf wurde am Sonnabend am frühen Abend gemeldet, über Twitter, von irgendwem. Bilder mit Blut kursierten im Internet. Alles Fälschungen. Offenbar, um gezielt Angst zu verbreiten. Diesmal ohne Folgen. Die Stadt blieb ruhig.

Acht quälende Stunden lang liegt am Freitag die Unsicherheit über München. Tausende Leute sind in der Stadt gestrandet, in der nichts mehr geht. Damit sie einen Unterschlupf finden, öffnen viele Münchner ihre Wohnungstüren; das Hotel „Vier Jahreszeiten“ nimmt einige Hundert auf, Staatskanzlei und Polizeipräsidium ebenfalls. Die Michaelskirche in der City lässt Dutzende gleich bis zum Sonnabendmorgen übernachten.

Erst zwischen zwei und drei Uhr nachts blasen die Behörden den Alarm ab. Es habe sich, beruhigt Münchens Polizeipräsident Hubertus Andrä vor den Fernsehkameras, die live übertragen, definitiv um die Attacke „eines Einzeltäters“ gehandelt. Am Sonnabend liefern Andrä und die anderen Ermittler mehr Details nach – und sie tun es ausdrücklich, „als Kernbotschaft“, in einer zweiten Stufe der Entwarnung: „Keinerlei Anhaltspunkte“, versichert Andrä, gebe es für Verbindungen des Täters zum sogenannten Islamischen Staat. Außerdem hätten „Tat und Täter zum Thema Flüchtlinge überhaupt keinen Bezug“. Damit stellt sich das „Munich Massacre“, wie es Weltmedien zu diesem Zeitpunkt nennen, ganz anders dar als der erste Schrecken dieser Woche, das „Axt-Attentat“ eines 17-jährigen afghanischen Flüchtlings im Regionalzug bei Würzburg.

Gleichwohl: Nach ersten Erkenntnissen der Behörden hat auch der junge Münchner Attentäter seinen Anschlag mit Vorsatz und besonderer Gründlichkeit geplant. Der 18-jährige Schüler David S., Deutsch-Iraner, in München geboren und aufgewachsen, hat sich eine Pistole und Munition besorgt, und er hat ein Facebook-Profil gefälscht, um junge Leute in den „Meggi“, den McDonald’s am Olympia-Einkaufszentrum, zu locken: „Ich spendiere euch was wenn ihr wollt aber nicht zu teuer.“

Aber weshalb das Gemetzel?

Es gibt ein Handy-Video vom Freitagabend, das inzwischen um die Welt geht und einen Schlüsselmoment zeigt. Auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums liefern sich der Attentäter und ein Anwohner knapp zwei Minuten lang ein Schreiduell. Zu diesem Zeitpunkt hatte David S. im Schnellrestaurant schon geschossen. „Was machst’n für an Scheiß?“, brüllt der Anwohner. „Ein Wichser bist du!“ Und David S. schreit zurück: „Ich bin Deutscher, ich bin geboren in dieser Hartz-IV-Gegend hier. Ich war in stationärer Behandlung.“ Dann brüllt er noch: „Ihr habt mich gemobbt, sieben Jahre lang.“

Der Anwohner ist der 57-jährige Baggerfahrer Thomas Salbey, der eine Etage über dem Parkdeck wohnt. Er hat den Täter zumindest kurz irritiert und so möglicherweise Menschenleben gerettet.

Eines versichern sowohl die Behörden als auch die Hausnachbarn in der gediegenen Maxvorstadt: Niemals sei David S. in irgendeiner Weise negativ aufgefallen. Wenn er – genauso wie der Axt-Attentäter von Würzburg oder der Amokläufer von Winnenden – zuvor überhaupt jemandem aufgefallen ist. Womöglich liegt darin ja auch das Problem.

Die geschockten Eltern, der jüngere Bruder, sie könnten vielleicht Auskunft geben, aber „sie sind noch nicht in der Tiefe vernehmungsfähig, in der wir das brauchen“, sagt Bayerns Kripo-Präsident Robert Heimberger. Neun Menschen hat David S. erschossen, bis auf eine 45-jährige Frau waren sie zwischen 14 und 20 Jahre alt. Die Opfer seien nicht gezielt ausgewählt worden, so die Polizei. Sie hatten türkischen, albanischen, kosovarischen Hintergrund – was ungefähr die Zusammensetzung des nahen Hochhaus-Stadtviertels spiegelt. Der Angreifer selbst habe sich mit einem aufgesetzten Schuss in den Kopf gerichtet, wie Staatsanwalt Steinkraus-Koch sagt. Polizisten hatten den Täter gesichtet.

Das war schon gegen 20.30 Uhr. Warum aber wurde bis nachts um zwei die „höchste Gefährdungsstufe“ aufrechterhalten, die „akute Terrorlage“? Warum die komplette, von der Polizei verfügte Blockade einer Millionenstadt am Auftakt zum Wochenende?

Die Erklärung, kurz und bündig, hat der vielleicht einzige Mensch geliefert, der in diesem entsetzten München die Ereignisse ruhig, souverän und überzeugend darstellte: Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins. Er sagt: „Die sozialen Netzwerke sind ein großes Problem.“

Mit den ersten Twitter-Meldungen kurz nach 18 Uhr ging es los: „Schüsse im Olympia-Einkaufszentrum!“ Mit jeder Sekunde wurden die Meldungen zahlreicher, aufgeregter und spekulativer. Plötzlich wollte jemand eine Schießerei auf dem beliebten Karlsplatz im Stadtzentrum gehört haben. Polizeieinheiten brausten dorthin, evakuierten gleich noch den nahe gelegenen Hauptbahnhof. Dann kam der Marienplatz an die Twitter-Reihe, dann stand das Hofbräuhaus im Fokus; Gäste dort zerbrachen in Panik die Fensterscheiben. Auf dem Flughafen soll es eine Geiselnahme gegeben haben. Alles erfunden, vielleicht nicht selbst, vielleicht nicht mit Absicht. „Wehe, wenn doch!“, sagt Martins. „Das hat ernsthafte rechtliche Konsequenzen!“

Gerüchte, die zu Lawinen wurden und eine Stadt unter sich begruben. Die die Polizei vermuten ließen, mehrere Täter seien „mit Langwaffen“ auf Mordzug unterwegs, mal hier, mal dort. Gespenster am Ende, geboren im Kopf. Die meisten Verletzten, sagt Polizeichef Andrä, habe es auf den Nichtschauplätzen gegeben – verknackste Füße, vertretene Knie, Hände mit Schnittwunden. Alles verursacht allein durch Angst und Schock.

Am Morgen danach stehen sie wieder vor ihrem Einkaufszentrum, das bis auf Weiteres geschlossen bleibt, die Kassiererinnen vom Kaufhof. Sie haben selber nicht gewusst, wohin laufen, als Tausende Menschen in Panik an ihnen vorbeistürmten. Eine Verkäuferin erzählt, wie sie ihren Mann gepackt und ins Lager gezerrt hat: „Er wollte raus, er wollte stark sein, er ist halt so. Aber was tut man in der Notlage anderes, als Verwandte packen und in Sicherheit bringen?“

Da ist jene Polin im schwarzen Kleid, die „praktisch den ganzen Freitag“ im Einkaufszentrum zugebracht hat, aber rechtzeitig gegangen ist: „Diese Welt ist nichts mehr für mich. Diese Jugendlichen da mit ihren dauernden Computer-Ballerspielen, den heruntergezogenen Rollladen und dem Fastfood-Fressen!“

Da ist der kurdische Versicherungs-Angestellte Hassan N., der am Abend zuvor Kinder schreien gehört, „alle die Leichen in ihrem Blut“ gesehen hat und nun seinen dreieinhalbjährigen Sohn eine Kerze anzünden lässt: „Warum müssen unschuldige Menschen sterben? Es hätte auch mein Kleiner sein können.“ Als er aus dem Rudel der Fernsehteams, die das alles immer und immer wieder hören wollen, endlich ausbrechen kann, da geht Hassan N. zur Seite und weint.

Und da ist Amir, der Security-Mann im Einkaufszentrum. Er hat die Schüsse gehört. Er hat die Türen geschlossen „zur eigenen und zur allgemeinen Sicherheit“, er hat mehr als hundert Kunden im Keller versteckt, bis die Polizei ihnen freies Geleit gab. Amir hat jene Schwangere versorgt, die mit blutbespritzter Bluse in einem Geschäft Zuflucht suchte: „Die hat so gezittert, ich hatte Angst, die verliert ihr Kind. Und daheim – meine Frau ist ja auch schwanger.“

Amir ist zwanzig Jahre alt, er spricht ein exzellentes Deutsch. Seine Biografie ähnelt der des Würzburger Attentäters: Geflohen mit 14 Jahren aus Afghanistan, weite Strecken zu Fuß gelaufen über Iran, Türkei, Griechenland, seit dreieinhalb Jahren in Deutschland. „Ich dachte, hier ist das Paradies.“ Denkt er das heute auch noch? „Ja schon“, sagt Amir. „Ich hab hier alles bekommen, jetzt will ich was zurückgeben. Ich hätte ja auch davonlaufen können gestern Abend.“

Trotz des Durcheinanders und der quälenden Unübersichtlichkeit am Freitag: Der Vielfronten-Einsatz, das Krisen- und das Kommunikations-Management der Münchner Polizei gelten als hervorragend. Vergessen sind die hemdsärmeligen Zeiten, in denen die Bayern besonders brutal zugegriffen haben, gegen Demonstranten auf einem Weltwirtschaftsgipfel zum Beispiel. Kein Shitstorm im Internet diesmal. Nur Applaus. „Vertraut uns – und lasst uns unsere Arbeit machen!“, hat Sprecher Marcus da Gloria Martins am Freitagabend auf allen verfügbaren Kanälen verlangt.

Der 43-jährige frühere Chef der Münchner Verkehrspolizei ist wegen seines immer gelassenen und souveränen Auftretens zum Star in jenen sozialen Netzen geworden, die er als Problem bezeichnet und die er selber mit seinen Mitarbeitern virtuos nutzt. Ein Star war da Gloria Martins kurzzeitig schon mal: Als er mitten in der Silvesternacht die Räumung des Münchner Hauptbahnhofs erklären musste. Ein Fehlalarm, wie sich bald herausgestellt hat, aber so überzeugend kommuniziert, dass dies nur Bewunderung erregte.

Die Tage danach, das sind auch die Tage der Politiker, die – wie Horst Seehofer und Angela Merkel – die Tat verurteilen, Mitgefühl ausdrücken mit den Opfern und allen anderen, die an Orten getroffen worden seien, so Merkel, „an denen es jeden von uns hätte treffen können“. Die Politiker versprechen „intensive Aufklärung“ und gießen aus vollen Händen Dank aus über „die hervorragende Polizei“ und die „besonnen gebliebenen, solidarischen“ Münchner Bürger.

Fall erledigt? „Sicherheitsbedenken gibt es keine mehr“, sagt Polizeichef Hubertus Andrä. „Auch nicht gegen das Veranstalten und das Besuchen von Festen – es sei denn, man ließe es aus Pietätsgründen sein.“ Eine Verkäuferin vor dem Einkaufszentrum sagt am Sonnabend: „Ach ja, heute ist zu. Morgen ist Sonntag, und am Montag wird alles wieder ganz normal.“