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Zukunftspakt für Görlitz nötig

Die Bombardier-Krise verschärft den Strukturwandel. Es bedarf einer klaren Antwort von Stadt, Freistaat und Wirtschaft.

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© Pawel Sosnowski

Von Sebastian Beutler

Görlitz. Familienpolitik ist eines der Hauptanliegen des Görlitzer Oberbürgermeisters Siegfried Deinege. Ein Familienbüro hat er eingerichtet, ein sozio-kulturelles Zentrum entsteht, um nicht noch einmal eine Generation durch Abwanderung zu verlieren. Und doch könnte es sein, dass Deinege nun zu einer ganz anderen Familienpolitik gezwungen wird: Unter den 700 Mitarbeitern bei Bombardier sind viele, die Frau und Kinder haben oder sich eine Zukunft in Görlitz vorstellen konnten. Solange sie einen Job haben.

Das ist nun infrage gestellt, nachdem Bombardier Ernst macht mit seiner Ankündigung, seine Produktion effizienter zu gestalten. Hunderte Verträge von Leiharbeitern wollen die Kanadier nicht verlängern oder kündigen, auch die Konstruktionsabteilung – Kernstück eines eigenständigen Werkes in Görlitz – wird bis zur Unkenntlichkeit eingedampft. Die Ersten haben schon die blauen Briefe erhalten, Bombardier setzt auf Tempo, will das Aufbegehren gegen die Massenentlassungen an der Neiße dadurch möglichst schon im Keime ersticken. Am heutigen Donnerstag aber gehen die Mitarbeiter erst einmal auf die Straße, rufen ihren Protest laut heraus. Und ihre Ohnmacht.

Diese Entlassungswelle ist qualitativ neu. Stellenabbau, auch drastischen, hat es beim Görlitzer Waggonbau immer wieder gegeben. In den 1990er Jahre etwa, als die russischen Staatsaufträge wegfielen, oder Anfang der 2000er Jahre, als nach der Privatisierung der Deutschen Bahn auch die Doppelstockwagen für den Regionalverkehr nicht mehr so gefragt waren. Damals leuchtete vielen, wenn auch schmerzlich, die Entlassung ein: Es gab einfach keine Aufträge. Dieses Mal ist die Lage anders. OB Deinege mahnte Bombardier jüngst, über den Stellenabbau noch einmal nachzudenken. Schließlich seien die Auftragsbücher voll, und die unpünktliche Erfüllung der Aufträge würde das Image von Bombardier schmälern und damit die Aussicht auf neue Aufträge verschlechtern. Was Deinege an dieser Stelle aber zu wenig beachtet: Bombardier hat nicht nur angekündigt, Jobs zu streichen. Die Bildung des Schienenfahrzeugzentrums mit Bautzen bedeutet auch, dass Aufträge und damit Arbeit von Görlitz in andere Bombardier-Werke verlagert wird: Der Innenausbau nach Bautzen, Wagen für die Schweiz nach Villeneuve , künftig vielleicht auch nach Wroclaw. Diese Zangenbewegung aus Jobabbau und Arbeitsverlagerung ist es, die den Görlitzer Waggonbau nach fast 170 Jahren seines Bestehens in den Grundfesten erschüttert. Deswegen sind auch die Politiker so ohnmächtig, die sich in den vergangenen zwei, drei Wochen zu Wort gemeldet haben. Solidarität müsse man üben, Bombardier an seine Verantwortung erinnern, wenigstens einen sozial abgefederten Stellenabbau verlangen, wenn er denn schon nicht mehr zu verhindern ist. Wer so spricht, weiß, dass er nicht viel tun kann.

Zur Protestaktion

IG Metall und Betriebsräte rufen an diesem Donnerstag, ab 9.30 Uhr, zu einer Protestaktion vor dem Werkstor von Bombardier auf der Christoph-Lüders-Straße auf.

Reden werden Jan Otto von der IG Metall, Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD), OB Siegfried Deinege und Betriebsratsvorsitzender Volker Schaarschmidt. Auch Landtagsabgeordneter Mirko Schultze (Linke) und Bundestagsabgeordneter Stephan Kühn wollen kommen.

Die Verkehrsgesellschaft bedient zwischen 9.30 und 11.30 Uhr nicht die Haltestelle „Waggonbau“ der Linie A.

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Rolf Weidle ist für seine Neujahrsansprache in diesem Jahr schwer kritisiert worden. Weil er den Investoren am Berzdorfer See das entscheidende Wort für einen neuen Namen zugebilligt hatte. Dabei ist ein anderer Satz von ihm in derselben Rede mindestens genauso spannend. „Da dürfen wir uns nichts vormachen“, sagte er Mitte Januar, „Sowohl Siemens als auch Bombardier sind Globalplayer, und sie werden ... eines Tages auf unsere Stadt keine Rücksicht nehmen.“ Weidle legte damit den Finger in die Wunde. Die Bombardier-Krise verschärft den Strukturwandel in der Stadt. Schneller als gedacht. Darauf muss die Stadt energisch und klar reagieren.

Bislang ist davon wenig zu spüren. Ein, zwei Zahlen helfen, um die Krise deutlicher zu beschreiben. Mit dem angekündigten Stellenabbau bei Bombardier verliert die Stadt jeden siebten Industrie-Arbeitsplatz. Bei der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze wird Görlitz fünf Jahre zurückgeworfen. Wohlstand und Wachstum dieser Stadt sind dadurch massiv gefährdet, auch die Abwanderung könnte wieder zunehmen. Denn die Experten des Leipziger Leibniz-Institut für Länderkunde hatten schon Anfang des Jahres in der SZ in bemerkenswerter Klarheit gesagt, dass am Ende Jobs darüber entscheiden, ob die Stadt junge Menschen anziehen und halten kann. Selbst die besten Kita- und Krippenverhältnisse, die modernsten Schulen und die attraktivsten Wohnpaläste verlieren an Anziehungskraft ohne Arbeit.

Nach der Ankündigung von Bombardier ist die Görlitzer Stadtpolitik zunächst in eine Schockstarre gefallen. Das ist ganz verständlich, und muss doch schnell ein Ende haben. Die meisten sind froh, dass der OB mit dem kanadischen Aufsichtsratsvorsitzenden sprechen will, und hoffen, dass Deinege als alter Bombardier-Manager die richtigen Worte bei seinen früheren Mitstreitern findet. Den Versuch soll Deinege ruhig wagen, falschen Hoffnungen aber sollte sich niemand hingeben.

Stattdessen müssen Bombardier, Belegschaftsvertreter, Stadt, Freistaat und Wirtschaft jetzt einen Zukunftspakt für Görlitz schnüren. Zunächst sollten IG Metall und Betriebsrat in Verhandlungen mit Bombardier darauf drängen, dass der Belegschaftsabbau mit einer Standortgarantie verbunden wird. So wie es auch bei Siemens geschah. Bombardier müsste dann für den verbleibenden, gesicherten Görlitzer Standort wieder in die Offensive gehen: neue Kunden für die Doppelstockzüge gewinnen, dieses Mal auch die vielen privaten Regionalverkehrsanbieter. Allein die Deutsche Bahn ist zu wenig.

Dann müssen Freistaat und Arbeitsagentur den Entlassenen zielgerichtete Angebote in der Region unterbreiten, um deren Abwanderung oder deren Abgleiten in die Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Bei allen Problemen ist der Moment so günstig wie nie, denn die Wirtschaft läuft auf vollen Touren. Die Europastadt GmbH könnte einen Waggonbau-Zulieferertag organisieren, bei dem es um neue Kundenbeziehungen geht, damit nicht auch noch die Zulieferer in existenzielle Probleme geraten. Die Stadt sollte beim Umsteuern der Görlitzer Wirtschaft nun vom Freistaat entschlossene Investitionen verlangen: Beispielsweise in den Ganzjahrestourismus mit Berzdorfer See und Stadthalle. Die Wirtschaftsförderung des Freistaates sollte eine Standortkampagne für Görlitz und den Landkreis lostreten, um weitere Firmen aus der IT-Branche, der Medizintechnik, dem Gesundheitswesen und bei Dienstleistungen nach Görlitz zu holen. Es geht jetzt ums Ganze.