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Zug überrollt Mann in Pulsnitz

Die Polizei geht von einem Suizid aus. Das treibt offenbar wilde Spekulationen in der Stadt an.

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Von Reiner Hanke

Es ist der Horror für jeden Lokführer, einen Menschen zu überrollen: Einen Schatten habe er Montagabend kurz nach 18 Uhr noch auf dem Gleis wahrgenommen, heißt es. Der Zug aus Richtung Kamenz durchfährt an der Stelle kurz vor den Bahnübergängen an der Hohle und Dresdner Straße eine Kurve. Gleich danach passierte es. Als der Lokführer den Schatten gewahrte, war es für die Notbremsung eigentlich schon zu spät. Er leitete sie dennoch sofort ein. Dann ein Rumpeln und sofort die furchtbare Ahnung, dass es ein Mensch gewesen sein muss. Zwei Rettungssanitäter waren zuerst am Unfallort und sprachen mit dem Lokführer: „Sie kamen sehr schnell wieder von der Unfallstelle zurück“, berichten Anwohner. Jede Hilfe kam zu spät. Etwa 20 Feuerwehrleute rückten an, um die Unfallstelle für Polizei, Rettungskräfte und die Notfalltrupps von Städtebahn und Deutscher Bahn AG auszuleuchten. Durch einen Übermittlungsfehler rollten die Wehren allerdings zuerst am falschen Bahnübergang an. Anwohner wie Christian Soika wissen, dass es auf diesem Streckenabschnitt nicht zum ersten Mal zu so einem tragischen Unglück gekommen sei. Auch den Anwohnern geht das nahe: Es müsse schon tiefe Verzweiflung sein, vielleicht auch Einsamkeit, die Menschen auf die Gleise treibt, so Christian Soika. Der letzte Fall liege aber schon längere Zeit zurück. Mitte der 1990er Jahre habe sich ein Pulsnitzer hier das Leben genommen, berichten andere Anwohner. Verdacht schöpften sie schon, als der 18-Uhr-Zug mit laufendem Motor mitten auf der Strecke hielt. Städtebahngeschäftsführer Dr. Ralf Böhme: Der Lokführer habe keine Chance gehabt, noch rechtzeitig zu reagieren. Bewusst sei wohl auch ein Zug nach Einbruch der Dunkelheit ausgewählt worden. Deshalb sei Selbstmord das Naheliegende.

Das bestätigt auch der Sprecher der Polizeidirektion Görlitz, Thomas Knaup. „Es ist von einem Suizid auszugehen. Die Personalien des Verstorbenen sind noch nicht mit letzter Gewissheit bekannt.“ Insider sprechen von einem 41-jährigen Mann aus dem Rödertal. Der soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein. All diese Informationen heizen die Gerüchteküche in Pulsnitz an. So gibt es eine Theorie, die Stadtgespräch ist. In der wird ein Zusammenhang mit einem Mordfall hergestellt. Es ist der Mord an Anke Hübschmann vor 23 Jahren nach einem Disco-Besuch in Bretnig-Hauswalde. Der Täter konnte bisher nicht ermittelt werden. Doch seit einem Jahr arbeitet die Polizei wieder intensiv an dem Mordfall. Der Druck auf den oder die Täter wachse zusehends. Die Schlinge um den Hals des Mörders ziehe sich zu, spekuliert man in Pulsnitz. Könnte eine Verbindung zu dem Suizid bestehen? Belege für den Verdacht gibt es nicht. Polizeisprecher Knaup stellt klar: „Ein Bezug zum Fall Anke Hübschmann ist derzeit nicht ersichtlich.“

Die Strecke Kamenz – Dresden war bis kurz vor 22 Uhr in Pulsnitz gesperrt. Etwa 40 Passagiere saßen zum Unglückszeitpunkt im Zug. Sie blieben laut Polizei bei der Notbremsung unverletzt. Knapp zweieinhalb Stunden mussten sie sich in Geduld fassen, bis sie ihre Reise per Schienenersatzverkehr fortsetzen konnten. Das Notfallmanagement habe sofort reagiert, so Dr. Ralf Böhme. Es sei so schnell wie möglich ein Schienenersatzverkehr mit Bussen zwischen Arnsdorf und Pulsnitz organisiert worden. Allerdings sei der Berufsverkehr noch nicht vorbei gewesen. Das habe es erschwert Busse für den Ersatzverkehr zu bekommen. Selbst mit Taxen habe es wegen des Karnevals schlecht ausgesehen. Der Lokführer habe den Schock relativ gut verkraftet – den furchtbaren Umständen entsprechend, so Ralf Böhme, wurde aber aus dem Dienst genommen und befinde sich in psychologischer Betreuung: „Jeder Lokführer verarbeitet das anders“, sagt der Städtebahnchef. Bei manchen Lokführern dauere es „einen oder mehrere Tage, bis das Ereignis ins Bewusstsein eindringt“. Auch Anwohner Christian Soika sagt: „So schnell wird man ein solches Erlebnis nicht los.“