SZ +
Merken

Zerschlagen und abgewickelt

Mähdrescher aus Bischofswerda waren weltmarkttauglich. Doch nach der Wende bekam das Werk keine Chance.

Teilen
Folgen
NEU!
© Wolfgang Schmidt

Von Ingolf Reinsch

Eine Kleinstadt muckt auf. Wenige Tage vor der angekündigten Schließung des Bischofswerdaer Mähdrescherwerkes Ende Juni 1991 besetzt die Belegschaft den Betrieb. Sie sperrt die Geschäftsleitung aus; will so verhindern, dass wichtige Akten oder Maschinen aus dem Werk gebracht werden. Es ist die erste derartige Aktion im Bezirk Dresden.

Ein Mähdrescher blockiert die Betriebszufahrt. Daneben stehen und sitzen verbitterte Mitarbeiter. „Fliegen hier nächste Woche über 2 300 Menschen raus, geht die Arbeitslosigkeit in unserer Region auf weit über 50 Prozent hoch“, zitiert eine Dresdener Zeitung einen Arbeiter am Werktor. Um das zu verhindern, fordern die Mähdrescherwerker die Gründung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft. Vier Millionen D-Mark würde die Anschubfinanzierung kosten. Doch weder die Mähdrescherwerke AG noch die Treuhand wollen zahlen. Dafür hätten sie kein Geld, heißt es. Einen Tag später protestieren die Mitarbeiter auf dem Bischofswerdaer Altmarkt. Im Landkreis Bischofswerda mit seinen rund 65 000 Einwohnern gab es bereits 13 000 Kurzarbeiter und 3 352 Arbeitslose. „Macht das Mähdrescherwerk dicht, geht hier alles kaputt“, sagte damals Bürgermeister Andreas Erler (CDU).

Zu DDR-Zeiten größter Betrieb

Das Mähdrescherwerk prägte die Stadt und die Region. In der DDR war es der mit Abstand größte Betrieb im Raum Bischofswerda. In den 1980er Jahren beschäftigte das Unternehmen an seinen Standorten Bischofswerda, Singwitz und Freiberg insgesamt 6 800 Menschen, davon 3 300 in Bischofswerda. Nicht nur in Ostsachsen, sondern DDR-weit war das Werk eine Macht. Etwa zehn Prozent der Leistung des Erntemaschinekombinates „Fortschritt“ mit Stammsitz in Neustadt erwirtschafteten die Mähdrescherwerker. Im Jahr 1989 produzierten sie 1 699 dieser Erntemaschinen – ein Rekordjahr für Bischofswerda.

Kurz darauf dann der Einbruch. Das Ende der DDR und der Planwirtschaft erforderte Strukturveränderungen. Dabei überwog anfangs bei vielen noch das Prinzip Hoffnung. Zwei Monate vor Einführung der D-Mark wurde zum 1. Mai 1990 aus dem volkseigenen Kombinatsbetrieb eine selbstständige Aktiengesellschaft. „Das volkseigene Mähdrescherwerk ist tot. Die Sächsische Mähdrescher Aktiengesellschaft lebt“, titelte damals die Betriebszeitung. Vorstandsvorsitzender wurde Dr. Rolf Zumpe, zuvor Direktor für Ökonomie im volkseigenen Betrieb. Er kündigte an, die Sachsen wollen „die Nummer drei“ im deutschen Mähdrescherbau werden und die Weltmärkte erobern. Dafür sollten die neuen Bischofswerdaer Mähdrescher E 517 mit Motoren von Daimler-Benz ausgestattet werden. Das neue Modell sollte noch im Jahr 1990 in Deutschland und Ungarn erprobt und ab Jahresende in Serie produziert werden, versprach Rolf Zumpe. „Illusion, Zweckoptimismus oder Hinhaltetaktik?“, fragt heute ein ehemaliger Fortschritt-Werker.

Vertragsarbeiter wurden zurückgeschickt

Unmittelbar nach Gründung der Aktiengesellschaft kündigte Rolf Zumpe an, dass das „nach neuesten Berechnungen um 35 Prozent zu hoch liegende Personal“ abgebaut werden muss. Ausländische Vertragsarbeiter wurden in ihre Heimat zurückgeschickt, Verträge über die Beschäftigung von Strafgefangenen gekündigt, Rentner nicht weiterbeschäftigt, Leuten ab Mitte Fünfzig der Vorruhestand angeboten ... Retten konnte es das Werk nicht. Als Teile der Belegschaft im Juni 1991 den Betrieb besetzten, saß die überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter bereits seit Monaten zu Hause. Die Produktion stand still. Stattdessen „Kurzarbeit Null“. Von einst 6 800 Mähdrescherwerkern sollten noch maximal 1 000 bleiben. Nicht im Bischofswerdaer Werk, das nun geschlossen werden sollte, sondern in Singwitz.

Mit Einführung der D-Mark war der Markt fürs Mähdrescherwerk weggebrochen, vor allem im Ostblock. „Mit der harten Währung verteuerten sich unsere Erzeugnisse schlagartig“, sagt Klaus-Jürgen Kramer, damals Betriebsteilleiter im Mähdrescherwerk. Um in Westeuropa Fuß zu fassen, fehlte ein eigenes Händlernetz. Dabei waren die in Bischofswerda hergestellten Mähdrescher leistungsfähig, zuverlässig und technologisch auf dem Stand der Zeit, sagt Klaus-Jürgen Kramer. Weshalb der Mähdrescherbau in Ostsachsen trotzdem keine Chance bekam, sieht er in einer „Marktbereinigung“ begründet.

An Produktionsstätten nicht interessiert

Vertreter des Bischofswerdaer Werks sondierten Chancen in Westdeutschland, sprachen dort mit Vertretern des Landmaschinenproduzenten Claas. Den Gästen aus Ostsachsen habe man sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass man nicht an deren Produktionsstätten, sondern nur an deren Märkten interessiert sei, berichtet ein Teilnehmer der Gespräche. „Wir hatten nie wirklich eine Chance. Der Mähdrescherbau in Bischofswerda war nicht gewollt“, sagt Frank Kern, damals Betriebsrat. Aus seiner Sicht hätte man Zeit gebraucht, um neue Märkte zu erschließen und die Mähdrescher auf leichtere Materialien und neue Technologien umzurüsten, um effektiver produzieren zu können.

Durch ihren Protest im Sommer 1991 erzielten die Mähdrescherwerker zumindest einen Teilerfolg. Die von ihnen geforderte Beschäftigungsgesellschaft wurde gegründet. Rund 90 Mitarbeiter wurden später von der Firma Max Aicher übernommen. Und es gab aus Sicht von Ex-Betriebsrat Frank Kern einen weiteren Erfolg: eine gerechte Lösung bei Abfindungen für Mitarbeiter, die gehen mussten. „Dadurch war die „kleine“ Angestellte genau so abgesichert wie die Chefs“, sagt er.

Das Aus des Werkes wirkt bis heute nach. Bischofswerda fehlen heute vor allem die Industriearbeitsplätze. Weswegen der Fortschritt-Zeiten in vielen Gesprächen auch 25 Jahre nach der Wende immer noch nachgetrauert wird.