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Zeithains zwei Gesichter

Flüchtlinge begrapschen Frauen, Rechte jagen sie mit dem Schwert – in einem Dorf bei Riesa eskaliert der Asylkonflikt. Dabei haben beide Seiten dasselbe Problem: Alkohol.

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© Robert Michael

Von Dominique Bielmeier

Zeithain. Wenn die Kunden im Zeithainer Netto-Markt zurzeit nervös über ihre Schultern schauen und die Verkäuferinnen beim Bäcker nebenan flüsternd die Köpfe zusammenstecken, dann liegt das an Menschen wie ihnen: zwei jungen Männern mit dunkler Haut und pechschwarzen Haaren, Asylbewerber aus dem Heim nebenan. Am Montagmittag kaufen sie hier ein. Sie wirken kaum älter als 20, der Hals eines der Männer ist pickelig, seine Schultern sind noch jungenhaft schmal.

Zeithainer Idylle: Ein Blick auf den Dorfkern der 6100-Seelen-Gemeinde unweit von Riesa.
Zeithainer Idylle: Ein Blick auf den Dorfkern der 6100-Seelen-Gemeinde unweit von Riesa. © Robert Michael

In ihren Einkaufswagen packen die beiden Aufbackbrötchen, Reis, Thunfisch, Speiseöl – streng nach Einkaufszettel und alles gleich im halben Dutzend. Ein anderer Kunde, ein Deutscher, muss bei der Suche nach dem Reis helfen, irrt selbst kurz durch die Gänge und wird dann fündig. Freundliches Nicken auf beiden Seiten. Noch eine Flasche italienischen Wein in den Wagen, der einzige Luxus dieses Einkaufs, bei dem offensichtlich aufs Geld geschaut wird, dann geht es zur jungen Frau an die Kasse. Und danach zurück in den Regen, der das Dorf bei Riesa an diesem Tag unter einem dicken grauen Wolkenschleier zu erdrücken droht.

Diese banale Szene wäre kaum eine Beschreibung wert, wäre nicht genau hier, im Netto, vor knapp drei Wochen das passiert, was die Menschen in Zeithain seitdem verunsichert und Asylgegnern Aufwind verschafft: Ein Flüchtling aus Marokko soll eine Verkäuferin begrapscht haben, als diese gerade die Regale einräumen wollte. Der Vorfall wurde erst Tage später öffentlich, was laut Polizei nur am Zeitpunkt des Übergriffs lag: An Sonnabenden sei die Pressestelle nicht besetzt und der Polizeiführer vom Dienst, der dann für die Pressearbeit zuständig sei, habe in dieser Zeit eben wichtigere Aufgaben.

In den Polizeibericht und damit auch in die überregionalen Medien schaffte es dagegen ein Angriff von Deutschen auf eine Gruppe von männlichen Asylbewerbern in Zeithain: In der Nähe eines Dönerimbisses im Gewerbegebiet sollen zwei Einheimische mit einem Baseballschläger und einem Samuraischwert auf die Ausländer losgegangen sein, eine gute Woche nach dem Vorfall im Netto. Ein Mann, der nicht schnell genug weglaufen konnte, wurde leicht verletzt. Die Polizei ermittelt nun in beiden Fällen, nähere Auskünfte erteilt die Pressestelle deshalb zurzeit nicht.

Was ist los in dem Dorf 10 Fahrtminuten hinter Riesa, von dem man sonst höchstens wegen der Justizvollzugsanstalt, der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain oder des Feuerwehrmuseums hört? Wo August der Starke 1730 sein „Lustlager“ veranstaltete, ein 1 000 Hektar großes Militärlager, von dem heute noch übrig gebliebene Obelisken zeugen: Warum eskaliert gerade hier der Asylkonflikt, warum zeigen sich die Schattenseiten – kriminelle Asylbewerber, gewaltbereite Rassisten – so überdeutlich?

Die beiden jungen Flüchtlinge aus dem Netto, die nun vor dem Eingang darauf warten, dass der Regen nachlässt, können es nicht erklären; sie sprechen weder Deutsch noch Englisch. „Nein, sorry“, antwortet einer auf die Frage nach seinen Sprachkenntnissen. Die Ironie entgeht ihm. Dafür kann er zeigen, wo er herkommt: Er deutet hinter den Markt, irgendwo ins Nirgendwo, wo selbst das triste Gewerbegebiet endet und vor der B 169 nur noch Felder kommen.

Hier, An der Borntelle, steht ein flaches graues Gebäude, das sich vom Himmel an diesem Tag kaum abheben kann. Wären nicht die dunkelgrün verkleideten Bauzäune mit dem DRK-Logo darauf rings um den Bau, man würde ihm beim Vorbeifahren keinen zweiten Blick schenken. Hier leben seit Ende Dezember vergangenen Jahres rund 130 Asylbewerber in einem ehemaligen Lager des Elektrogroßhandels BTF. Hohe, viereckige Wandöffnungen zeugen davon, dass hier einmal Lkw beladen wurden. Für die Unterbringung von Menschen war das Gebäude nie gedacht. Nun sollen bis zu 400 Flüchtlinge in dem Lager wohnen können, das die Verantwortlichen neudeutsch lieber „Camp“ nennen.

Es ist eine Erstaufnahmeeinrichtung, die jedoch nicht die Landesdirektion betreibt, sondern der Landkreis Meißen. Wer von den Asylbewerbern neu in den Kreis kommt, landet hier, bevor er auf Wohnungen weiterverteilt wird. Da Familien bevorzugt Wohnraum erhalten, bleiben hier vor allem alleinreisende Männer übrig.

Es ist wie so oft, wenn es um das Thema Asyl geht: Das Camp ist für die Presse tabu, das Riesaer DRK verweist auf den Landkreis, der entscheiden müsse, dessen Sprecherin Kerstin Thöns spielt den Ball zurück zum DRK, um dann festzustellen: Eine Reportage aus dem Heim sei „mit Blick auf die Sicherheit wenig hilfreich“.

Dem Camp und seinen Bewohnern erweist dies einen Bärendienst. Denn hört man sich bei den Menschen in Zeithain um, stößt man schnell auf eine ungewöhnliche Klassifizierung der Flüchtlinge: Da gibt es die Bösen im Heim und die Guten im „Nikopol“. So wird der riesige, in verwaschenen Pastellfarben gestrichene Wohnblock in der Nikopoler Straße genannt. Hier leben seit mehr als einem Jahr etwa hundert Asylbewerber, kaum weniger als im Heim einen Kilometer entfernt, jedoch eher Familien. Gut integriert seien die mittlerweile, sagt man. Anders als „die da oben“ am Ende des Gewerbegebiets. Als ein Hausmeister lockere Holzlatten am Zaun vor dem Nikopol wieder anbringt, ruft eine Seniorin von ihrem Balkon herunter: „Das waren aber nicht die Ausländer!“ Deutsche Jungs seien es gewesen.

Zwischen Netto, Aldi, Kik und mehreren kleinen Läden im Gewerbegebiet sind die Menschen wegen der Heimbewohner besonders verunsichert. Besser gesagt: die Frauen. Sie machen den Großteil der Verkäuferinnen und Kassiererinnen aus, oft stehen sie alleine im Geschäft. In der Bäckerei Wagner reden zwei Verkäuferinnen, die nur mit ihren Vornamen Anja und Renate genannt werden möchten, ganz offen über ihre Ängste. Vor allem abends hätten sie ein ungutes Gefühl, wenn sie die Bäckerei alleine verlassen und dann Gruppen von Asylbewerbern auf dem Parkplatz herumstehen würden. „Mein Mann hat mich am Freitagabend angerufen und gefragt: Biste jetzt heeme?“, erzählt Renate. Er musste arbeiten und konnte sie deshalb nicht abholen. „Man kann es auch nicht wirklich verstehen, dass es nur junge Männer sind“, sagt die Frau. „Die Kerle sind dort eingesperrt, die kriegen’s im Kopp. Lass mal Sommer sein, dass wir auch ein bisschen luftiger angezogen gehen ...“ Sie spricht den Gedanken nicht zu Ende.

Ihre Kollegin Anja fühle sich etwas sicherer, seit diese Hütte verschwunden sei. Am Freitagmorgen sei sie abgerissen worden. Hütte? Ja, eine Spargelbude, in der die Asylbewerber immer gesessen und sich betrunken hätten. „Schnaps ohne Ende.“

Alkohol scheint eine Schlüsselrolle zu spielen bei den Geschehnissen in Zeithain, denn um ihn geht es auch bei der Geschichte, die die Angestellte eines Getränkemarktes nebenan erzählt: Einmal habe ein Asylbewerber bei ihr eine Flasche Bier geklaut. „Da habe ich zu denen im Laden gesagt, ihr müsst jetzt mal alle hierbleiben, ich muss dem hinterher.“ Auch sie lässt sich abends nun lieber mitnehmen.

Und auch als ein 61-jähriger Libyer an einem Dienstagabend Ende Januar seine Matratze in der Gemeinschaftsunterkunft im alten Elektrolager anzündete, war Alkohol im Spiel: Ein Test ergab bei dem Mann einen Wert von 1,28 Promille. Dass der mutmaßliche Grapscher vom Netto bei seiner Tat unter Alkoholeinfluss stand, darauf gibt es laut Polizei jedoch keine Hinweise.

Weil die Angestellte aus dem Getränkemarkt dagegen ist, dass „die alles auf unsere Kosten bekommen“, war sie bei der Anti-Asyl-Kundgebung der NPD dabei, die kurz nach dem Übergriff auf die Netto-Mitarbeiterin in Zeithain stattfand. „Da fiel kein Wort rechts“, beteuert die Frau, auch Knallkörper seien keine geflogen, anders als die Presse geschrieben habe. Rund 170 Menschen demonstrierten „gegen die Flutung der Gemeinde Zeithain mit Asyl-Schwindlern“, wie es auf einem Flugblatt heißt.

Gut 6 100 Menschen leben in der Gemeinde Zeithain, das ergab der Zensus von 2011. Davon waren damals etwa 100 „Nichtdeutsche“. Heute informiert die Webseite der Gemeinde (Stand 19. Januar), dass nun 240 Asylbewerber hier leben, davon 192 männlich und 105 von diesen zwischen 19 und 30 Jahren alt. Die meisten Männer kommen aus Marokko (22), gefolgt von Irak (18) sowie Eritrea und Iran (je 15).

Der Bürgermeister Ralf Hänsel (parteilos) kennt die Bedenken seiner Einwohner den Fremden gegenüber. Obwohl der Polizeiposten in der Nikopoler Straße trotz der Vorfälle in den vergangenen Wochen kaum frequentiert wurde, fahren die Beamten nun häufiger Streife im Ort. Im Rathaus gibt es zusätzlich dienstags und freitags Bürgersprechstunden der Polizei. „Wir wollen mehr Präsenz zeigen“, sagte Sprecher Marko Laske. Bei der ersten Sprechstunde im Rathaus sei die Resonanz jedoch verhalten gewesen, berichtet Bürgermeister Hänsel. „Bei mir war niemand, den ich zur Polizei hätte schicken können.“

Der Rathauschef steht im engen Kontakt mit der Polizei und der Campleitung, saß erst diese Woche wieder in einer Runde, bei der besprochen wurde, wie die Probleme in Zeithain gelöst werden können. Das DRK habe den Bewohnern des Nikopols in einer Art Ansprache bereits erklärt. „wie die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland sind, welchen Stellenwert Frauen haben und dass in der Öffentlichkeit nicht getrunken werden soll“. Eine solche Belehrung soll als nächstes für die Bewohner des Heimes erfolgen.

Der Netto reagierte auf den Vorfall vom 16. Januar, indem er einen Wachschutz einsetzte, der täglich ab 14.30 Uhr vor dem Markt Stellung bezog. Seit Montag ist der große, schwarz gekleidete Mann jedoch wieder verschwunden, er war vorerst nur bis Ende Januar vorgesehen. „Nun müssen wir mal schauen“, antwortet eine Bäckereiverkäuferin auf die Frage einer Kundin nach dem Verbleib des Mannes, und macht ein entschuldigendes Gesicht.

Und noch etwas wird aktuell diskutiert: ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. Den Bürgermeister erreichen immer wieder Beschwerden, dass Asylbewerber im betrunkenen Zustand zum Beispiel an der Bushaltestelle urinieren würden. Doch das mit dem Verbot sei nicht so einfach, dazu müssten unter Alkoholeinfluss auch Straftaten begangen werden – und Wildpinkeln reicht dazu nicht aus. „Wir sind mit dem Trinken in der Öffentlichkeit nicht zufrieden“, sagt Hänsel. „Aber ein Verbot muss ja auch rechtssicher sein.“

Gerade im kleinen Park neben dem Nikopol – eigentlich eher eine Rasenfläche mit einer längeren, halbrunden Holzbank an einem Ende – kommt es nach Aussagen von Anwohnern häufiger zu Trinkgelagen. Auch unter Deutschen.

Auf eben diesem Fleckchen Grün entzündete sich am 25. Januar der Streit zwischen Zeithainern und Ausländern, der zum Einsatz des Schwertes führte. Der Besitzer des Dönerimbisses direkt gegenüber, Mustafa Deniz, war Augenzeuge. Dass sich die Presse noch immer dafür interessiert, verwundert ihn. Der Vorfall sei kleiner gewesen, als er geschildert wird, erzählt er – trotz Schwert- und Schlägereinsatz. Nach nur fünf Minuten vorbei. Auf der langen Bank im Park hätten Deutsche an einem Ende und Asylbewerber am anderen gesessen. Zwei Flüchtlinge hätten außerdem gerade Döner bei ihm gekauft. Dann kamen die Rufe der Deutschen: „Asylanten raus!“ Die Ausländer hätten sie jedoch nicht verstanden und seien mit dem Essen zu den anderen zurückgegangen. Dort habe sich dann ein verbaler Streit zwischen beiden Gruppen aufgeschaukelt. „Dann waren sie weg“, erzählt Deniz. Als er das nächste Mal aufsieht, läuft ein Mann mit einem Baseballschläger in der Hand vorbei, ein anderer trägt ein Schwert. Die Ausländer laufen vor ihnen davon. „Das war ganz kurz“, sagt Mustafa Deniz, „nix große Theater“.

Überraschenderweise ärgert ihn vor allem, dass die deutschen Angreifer in manchen Medien als Neonazis bezeichnet wurden. „Das waren keine Neonazis!“, sagt er und – als ob sich beides ausschließen würde: „Die wohnen auch in der Nikopoler Straße.“ Sie seien seit Jahren Kunden bei ihm, würden immer in dem kleinen Park sitzen. „Das sind zwei Besoffene, die trinken fast jeden Tag“, so Deniz. Auch bei dem Vorfall seien sie betrunken gewesen. „Wenn sie nix trinken, ist alles o.k. Aber wenn sie trinken, ist alles verloren.“