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Zähne, niemals Zacken!

Nach zwei Schlaganfällen musste Kurt Walter Schleicher das Leben neu erlernen. Seine Briefmarken lassen ihn nie los.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Ist sie das wirklich, die Marke mit Luther im Profil von 1996? Kurt Walter Schleicher hält sie sich vor das Gesicht, immer näher. Schließlich nimmt er seine stärkste Lupe zur Hilfe. Ja, sie ist es. Seit zwei Schlaganfällen 2015 und 2016 kann der 79-Jährige kaum noch sehen. Im einen Moment erkennt er das Album noch halbwegs, eine halbe Stunde später sieht er nur noch eine Silhouette in Hell und Dunkel. Wie durch Milchglas betrachtet er die Welt. Die Ärzte können ihm nicht helfen, sagt er. Damit nicht.

„Die Arche“ ist eine von Hunderten Collagen aus Briefmarken.
„Die Arche“ ist eine von Hunderten Collagen aus Briefmarken. © privat

Dass sich Kurt Walter Schleicher überhaupt noch mit seinen Briefmarken beschäftigen kann, gleicht einem Wunder. Direkt nach seinen Schlaganfällen konnte er seine Hände nicht bewegen, die Augen nicht öffnen, nicht laufen, nicht sprechen. Er wusste nicht, was das Alphabet ist, und suchte seine eigene Nase im Gesicht. „Ich musste alles neu lernen“, sagt er. Am Anfang habe niemand geglaubt, dass er noch einmal zurück nach Hause könne.

Und jetzt sitzt er wieder in seiner Wohnung in Weißig und stellt fest: „Ich bin superglücklich.“ Bis auf die Augen und das Zahlengedächtnis macht alles wieder, was es soll. Er kann wieder leben – und das bedeutet, er kann sich wieder um seine gezackten Schätze kümmern.

Kurt Walter Schleicher ist nicht einfach nur Briefmarkensammler, er ist Briefmarkenwissenschaftler, eine über Sachsens Grenzen hinaus bekannte Ikone, Ehrenvorsitzender des Internationalen Philatelistenvereins von 1877 Dresden und Mitglied in mehreren Verbänden.

In seinem kaum acht Quadratmeter großen Arbeitszimmer reihen sich in den Regalen links und rechts graue Buchrücken aneinander. Seine private Bibliothek der Philatelie. In Doppelreihen stehen die Fachbücher aus sieben Jahrzehnten wohlsortiert neben unzähligen Ordnern. Hinter den Schranktüren verbergen sich die Briefmarkenalben. „Das Gebiet ist so umfangreich, das können Sie sich nicht vorstellen“, sagt er. Jeder, der sich ernsthaft mit Briefmarken beschäftigen will, müsse sich Schwerpunkte suchen. Bei Kurt Walter Schleicher gehört nicht zufällig die Postgeschichte dazu. Als er sieben Jahre alt war, schenkte ihm ein Lehrer seine erste Marke. Die hatte noch keine Zacken. Zacken? Das verbotene Wort! „Wir sprechen von Zähnen“, korrigiert der Experte so oft wie vergeblich. Diese erste Marke, die er bekam, hatte keine Zähne, es war eine Siegelmarke, die Martin Luther zeigte, auf einem vergilbten Schreiben. Ihn habe besonders die verschnörkelte Schrift auf dem Umschlag begeistert, sagt er. Die Faszination für die Post sollte ihn nie wieder loslassen.

Viele Stunden verbrachte er in Bibliotheken, saugte das Wissen dazu geradezu auf. Wo, wie und warum ist eine Marke im Umlauf gewesen? Welche Belege gibt es, welche Stempelfarben, welches Papier?

Beruflich ging Kurt Walter Schleicher unterdessen ganz andere Wege. Er lernte zunächst Stellmacher und Karosseriebauer. Später studierte er Chemie und forschte zu radioaktiver Strahlung. Bis zur Wende arbeitete er im Forschungszentrum Rossendorf, danach noch bis 1999 im Landesamt für Umwelt und Geologie, Abteilung Strahlenschutz. Er war ein hoch angesehener Experte, hielt Vorträge, liebte die Chemie – und brauchte doch zu Hause immer seine Alben. Die Philatelie war ihm Erholung und innerer Antrieb zugleich.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Chemie in den Hintergrund gerückt. Ganz im Gegensatz zu den Briefmarken und dem, was er daraus macht. Schleicher ist einer der wenigen Menschen, die wissenschaftlich denken können und denen gleichzeitig eine kreative Ader geschenkt wurde. Seine Leidenschaft hat ihn schon früh zu wahren Kunstwerken inspiriert, Collagen aus Hunderten Briefmarken, teilweise zerschnitten und zu großen Motiven zusammengeklebt. Mal formen sie das sächsische Staatswappen, mal das Profil von Wilhelm Busch. Weit über 100 solche „Stampagen“, wie sie neudeutsch genannt werden, hat Schleicher seit den 70er-Jahren gestaltet. Schon häufig waren sie in Ausstellungen zu sehen.

In all der Zeit gab es immer wieder Philatelisten-Kollegen, die mit dieser Kunst gar nicht einverstanden waren. Briefmarken zerschneiden? Wo gibt es denn so was? Von diesen Stimmen ließ sich Schleicher aber nie stören. Eine Marke sei doch kein Heiligtum, an dem man sich nicht vergreifen dürfe, sagt er. „Außerdem geht es doch hier nicht um die Blaue Mauritius.“ Die Marken bekam er stets als Massenware von Freunden und Kollegen.

Einige der Collagen hängen heute im Arbeitszimmer. Sie werden bleiben, auch wenn die Briefmarken um ihn herum langsam verblassen. „Wer sammelt denn heute noch?“, fragt Schleicher. „Das macht doch viel zu viel Arbeit.“ Die jungen Leute würden heute viel lieber vor dem Computer sitzen und „Tipp Tapp“ machen. Landauf, landab klagen die Philatelistenvereine über den fehlenden Nachwuchs. „Nicht mal in der eigenen Familie ist mir das gelungen.“ Seine zwei Kinder und die fünf Enkel haben andere Leidenschaften.

Was soll’s, Kurt Walter Schleicher bleibt seiner treu. In diesem Jahr hat er zum ersten Mal nach seinen Schlaganfällen wieder den Geschichtsmarkt an der TU besucht. In der Klinik in Kreischa hält er Briefmarken-Vorträge, und auch an der nächsten Collage arbeitet er schon. „Mit schwirren da mehrere Ideen im Kopf herum.“ Seine Welt dreht sich weiter.